Ich hab dich lieb

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„Und dann haben Amy und ich gemeinsam Vater, Mutter, Kind gespielt. Ich war der Papa", kicherte Vic fröhlich auf dem Rücksitz, als Harry sich und seine Tochter durch den Verkehr schlängelte. Es war schon wieder so voll auf den Straßen, dass sich der Heimweg in die Länge zog und Harry war genervt davon.
Er hasste es mit dem Auto um diese Uhrzeit zu fahren, wobei man das wirklich nicht Fahren nennen konnte. Sie schlichen eher durch die Straßen, als das sie sich bewegten.

„Und rate mal was ich gearbeitet habe, Daddy".
Lächelnd schaute Harry in den Rückspiegel und sah seine Tochter an.
„Was den, Prinzessin?".
„Ich war Anwalt. So wie du".
In Harry machte sich Stolz breit, als er seine Tochter musterte. Er liebte sie. Sie war sein Ein und Alles, konnte ihr keinen Wunsch abschlagen. Vermutlich hatte er auch deshalb zugestimmt, dass sich Vic mit ihrer neuen Freundin treffen darf.
Wann wusste Harry noch nicht. Er musste schauen welchen der Termine er absagen konnte. Er freute sich jetzt schon auf die Diskussion mit seiner Frau.
Aber Vic war nunmal ein Kind und Kinder spielten. Das Leben bestand nicht nur aus Reitstunden, Gesangsunterricht und Lesegruppen.
Doch leider war da Jane anderer Meinung.

Als Harry es dann irgendwann bis zum Haus geschafft hatte, schnallte er seine Tochter ab, schnappte sich ihren Rucksack und ging Hand in Hand mit ihr ins Haus.
Sofort flogen die Schuhe von Vic in die Ecke und das kleine Mädchen rannte freudig in ihr Zimmer.
Seufzend stellte Harry die Schuhe ordentlich zusammen, stellte seine daneben und ging dann in die Küche, wo er seine Frau mit einem Tee in der Hand am Küchentisch vorfand.
„Ihr habt lange gebraucht", kam es bissig und Harry konnte nur die Augen rollen.
„Um diese Uhrzeit ist die Hölle auf den Straßen los".
Jane schwieg und starrte weiter auf ihren Laptop.
Wie harmonisch, dachte sich der Anwalt und legte seine Aktentasche auf den Tisch.

„Victoria hat eine neue Freundin", begann er zu erzählen, schnappte sich aus dem Kühlschrank eine Flasche Wasser und setzte sich gegenüber von seiner Frau.
Er musterte die kleine Glasflasche in seiner Hand und versuchte sich nicht wieder aufzuregen. Diese kleine 0,33 Milliliter kosteten so viel wie eine ganze Kiste.
Aber das war ein Markenwasser und was sollten denn nur die Leute denken, wenn sie zu ihnen zu Besuch kamen und ein billigeres Wasser vorfanden.
Harry seufzte.
Wann hatte sich sein Leben in diese Richtung entwickelt?
Früher war Jane anders, aber seit Harry ihr ein besseres Leben ermöglichen konnte, hatte sie sich in einen richtigen Snob verwandelt.

„Das ist schön", bekam er als Antwort, wobei seine Frau nicht vom Laptop aufschaute.
„Die Beiden wollen sich zum spielen treffen".
Nun hob Jane doch den Blick und sah ihren Mann an.
„Sie spielen doch im Kindergarten".
„Sie wollen sich außerhalb des Kindergartens treffen. So wie es normale Kinder auch machen". Leichte Bissigkeit konnte man bei Harrys Worten heraus hören, doch das war ihm egal.
Empört schnaufte die Frau des Anwalts auf. Hätte sie sich nicht vor wenigen Tagen die Stirn mit Botox machen lassen, hätte man vielleicht ihre Zornesfalte auf der Stirn erkennen können.

„Harold, Victoria hat für sowas keine Zeit. Montags ist Gesangsunterricht, Dienstags Reiten, Mittwochs Kinderyoga und anschließend die Lesegruppe, Donnerstag hat sie Tanzunterricht und Freitag ist wieder Reiten. Sie kann sich nicht mit anderen Kindern treffen und ihre Zeit verschwenden".

Harry merkte wie er wütend wurde.
Das waren definitiv viel zu viele Termine für eine Fünfjährige und das wusste Harry.
Und es war auch keine Zeitverschwendung, wenn Kinder spielten. Es war normal, sowas machten Kinder eben und sie waren glücklich dabei.
Man konnte sie nicht in einem Käfig gefangen halten.
Doch das sah Jane anders. Sie hatte bereits Victorias komplettes Leben durchgeplant. Hatte entschieden auf welche Uni sie gehen würde und was sie studieren sollte.
Victoria würde ein Überflieger werden, dass wusste die Frau des Anwalts jetzt schon und deshalb musste das Kind gefördert werden.
Unnötige Freundschaften standen da nur im Weg.
„Daddy?".
Vic kam mit ihrer kleinen Tasche in die Küche und sah ihre Eltern an.
„Muss ich heute wirklich zum Singen?".
Es brach Harry das Herz.
Mit großen Kulleraugen sah das Mädchen ihren Vater an, doch bevor Harry etwas sagen konnte, erhob Jane das Wort.
„Liebes, Singen ist sehr wichtig für dich. Und dir macht das so viel Spaß".
Vic senkte ihren Kopf.
„Aber ich möchte viel viel lieber zu Amy."
Sofort bekam Harry einen zornigen Blick. Jane machte ihn dafür verantwortlich, dass ihre Tochter eine Freundin hatte. Aber na und? Sollte das Kind nicht noch viel mehr als diese eine Freundin haben?
„Tut mir Leid, Schatz, aber du kannst dich nicht mit diesem Mädchen treffen".

Der Anwalt hörte das Brechen des Kinderherz und als dann ein Schniefen erklang, fühlte er sich so schlecht, dass er Vic am liebsten sofort zu Amy gefahren hätte.
„Los Liebes, zieh dich um und dann bringt dein Vater dich zum Gesangsunterricht".

Ähm, Hallo?
Seit wann war Harry bitte der Chauffeur?
Natürlich würde er Vic überall hinfahren, aber er wollte zumindest gefragt werden.

„Und was machst du in der Zeit?".
Jane verdrehte ihre Augen und deutete auf den Laptop.
„Ich muss eine neue Bücherliste für die Leserunde im Countryclub erstellen".

Ah ja. Das war natürlich so viel Wichtiger.

Als Harry wenig später mit seiner Tochter im Wagen saß und Vic sich noch immer nicht einbekommen hatte, reichte es ihm.
Er fuhr auf einen Parkplatz und stieg aus.
Dicke Krokodilstränen liefen dem kleinen Mädchen über die Wange, als Harry sie auf seinen Arm nahm und ihr einen Kuss auf die Wange hauchte.
„Heute kein Singen, Prinzessin", flüsterte er und ging ein paar Meter, bis sie an einem Eiswagen ankamen. Noch immer weinte Vic und erst als Harry ihr eine große Kugel Schokoladeneis in die Hand drückte, hörten die Tränen langsam auf.
Gemeinsam setzten sich Vater und Tochter auf eine kleine Bank im Park und aßen ihr Eis, als Harry erneut einen Regelbruch beschloss.
„Ich werde dich morgen zu Amy fahren".
Sofort leuchteten die Augen des kleinen Mädchens auf und ungläubig starrte sie ihren Vater an.
„Wirklich?".
Lächelnd nickte der Anwalt und küsste die Wange seiner Tochter.
„Wirklich, aber das muss unser Geheimnis bleiben, ja? Und das wir heute das Singen geschwänzt haben auch".
Verschwörerisch reichte Harry seiner Tochter den kleinen Finger, worauf Vic kicherte und ihren kleinen Finger darin verhakte.
„Versprochen ist versprochen und wird nicht gebrochen."

Sie genossen weiter ihr Eis und während sie da so saßen, musste Harry an den Vater von Amy denken. Er hatte den Blick von Louis gesehen, als er seiner Tochter erklärte, dass Vic eigentlich niemals Zeit hatte.
Was er wohl dachte?
Vermutlich hielt er ihn für einen schlechten Vater, aber das war er nicht. Er liebte seine Tochter und würde alles für sie machen. Und wenn es hieß, dass er seiner Frau etwas vorflunkern musste, dann machte er auch das.

„Daddy?".
Harry sah hinab zu seiner Tochter, die den Mund voller Schokoladeneis hatte. Selbst auf ihrer Nasenspitze klebte etwas und was sollte er sagen - es sah einfach niedlich aus.
„Ich habe dich lieb", flüsterte das Mädchen, ehe sie wieder an ihrem Eis leckte und die Beine baumeln ließ.

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