Kapitel 1

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„Höher! Höher! Noch höher!" ich sitze mit meinen vier Jahren auf der klapprigen, gelb-orangenen Plastikschaukel im Garten und mein Papa steht hinter mir und schubst mich kraftvoll an. Wir lachen beide. Es ist Sommer und erst vor zwei Jahren sind wir in dieses wunderschön Häuschen hier am Stadtrand von Köln eingezogen. „Höher!" quietsche ich erneut vergnügt und merke, wie mein Papa noch mal Anlauf nimmt, hoch springt, als ich hinten am höchsten Punkt bin, seine Hände um den Plastik Sitz nach oben legt und das Brett mit aller kraft nach unten drückt, um mich erneut anzuschubsen. Wieder lache ich glücklich und komplett sorgenfrei. Weiter hinten im Garten liegt meine Mama auf ihrer Sonnenliege und stöbert in einem Klamottenkatalog, während die Sonne ihre Haut von Stunde zu Stunde roter und brauner werden lässt. „Mama! Schau mal! Ich bin fast im Himmel!" schreie ich aus ganzem Hals so in die Luft, dass es mit Sicherheit die komplette Nachbarschaft gehört hat. „Super mein Schatz! Aber bitte schreie nicht so herum!" ermahnt sie mich direkt, wenn auch keinesfalls böse oder streng. Ich kichere leise vor mich hin und sorge mit meinen Beinen für noch mehr Schwung. „Ich bin fertig für heute" erklärt mein Papa mir atemlos, als ich fast wieder auf dem Boden bin und entfernt sich von mir in Richtung meiner Mama. Ich warte, bis ich komplett ausgeschaukelt habe und renne dann - wenn auch etwas unsicher - hinterher. An der Liege angekommen, klettere ich zu meiner Mama auf den Schoß, die ihre Zeitschrift zur Seite und dafür ihre Arme um mich legt. Müde schließe ich meine Augen und genieße die Wärme zu ihr. Es dauert nicht lange, da hat sie mich auch schon durch ihre sanften Streicheleinheiten auf meinem Rücken in den Schlaf gewogen.

Abrupt öffne ich meine Augen. Mit verschwollenem Gesicht und laut klopfendem Herz starre ich direkt an die kalte Zimmerdecke, die mir noch komplett fremd ist.  Dort hängt nicht wie gewohnt meine Lichterkette und die vielen Leuchtsterne, die ich erst vor einem Jahr zusammen mit meinem Papa angeklebt habe. Nein, diese Decke über mir ist weiß und kahl. Und es riecht auch nicht so wie in meinem Zimmer. Aber die erste Nacht ist geschafft, auch wenn ich nicht weiß, wie ich es geschafft habe. Es ist vorbei. Trotzdem kommen mir direkt alle Erinnerungen und Erlebnisse der letzten Tage in den Kopf und sofort bilden sich Tränen in meinen Augen. Warum bin ich hier? Warum bin ich nicht zuhause bei Mama und Papa? So wie in meinem Traum von eben? Ich drehe mich auf die Seite und ziehe mir die Decke über den Kopf. Draußen auf dem Flur sind stimmen zu hören. Viele Stimmen. Fremde Stimmen. Laute Stimmen. Stimmen, die ganz unterschiedlich sind: irgendjemand schreit durchs ganze Haus, ein Mädchen scheint zu weinen und ein erwachsener Mann versucht sie scheinbar zu trösten. Die anderen zwei 'Kinder' in meinem Zimmer scheinen noch zu schlafen, zumindest habe ich noch nicht ein Geräusch von ihnen mitbekommen. Ich merke, wie die Tränen über meine Wangen laufen, versuche aber nicht zu schluchzen. Trotzdem bleibt diese eine Frage in meinem Kopf: Warum? Warum ich? Was habe ich falsch gemacht? Warum liebt mich niemand? Vor einer Woche noch war alles okay und dann ging es so schnell. Von heute auf morgen war nichts mehr wie es einmal war. Meine heile Welt ist komplett zerstört. Und jetzt muss ich es die nächsten vier Jahre noch hier aushalten? Unvorstellbar! Ich will nach Hause zu meinen Eltern. Mich zu ihnen an den Tisch setzen und gemeinsam frühstücken. Anschließend den Tag im Garten verbringen und abends grillen. So, wie wir es ursprünglich für heute geplant hatten. Aber sie wollten mich nicht mehr. Ich ziehe mir die Decke vom Gesicht und schluchze laut auf. Es ist mir plötzlich egal, ob die anderen mich hören oder nicht. „Was ist denn los?!" grummelt sofort die Stimme aus der hinteren linken Ecke. „Heul leise, wir wollen schlafen!" bestätigt die Stimme aus der rechten Ecke. Es sind zwei Mädchen, die mit mir im Zimmer sind. Aber sie sind bereits einige Jahre älter als ich. Wie alt genau kann ich aber nicht sagen. Ich habe sie gestern Abend beim Essen kurz kennengelernt, jedoch sind sie direkt nach dem Essen mit ein paar weiteren Mädchen und Jungs nach draußen verschwunden, während ich heulend unter der Dusche stand. Ich versuche ein weiteres schluchzen zu unterdrücken, da ich mir nicht direkt Feinde machen will, so richtig gelingen will es mir aber nicht. Ich setze mich auf, greife nach meinem Handy und verschwinde damit fluchtartig aus dem Zimmer in Richtung Toiletten. Ich schließe mich in einer der Kabinen ein und entsperre das Handy. Mit schmerzendem Herz wähle ich die Nummer meiner Mutter, aber es geht direkt die Mailbox an. Schniefend probiere ich das gleiche mit der Nummer meines Papas. Aber auch dort komme ich nicht durch. „MAMA! PAPA! ICH WILL NACH HAUSE!" schreie ich jetzt laut und sacke dann in mich zusammen. Zitternd rutsche ich von der Toilette auf die kalten, dreckigen Fliesen, umschlinge meine Beine mit den Armen und lasse meinen Kopf auf die Knie sinken. Von außen klopft jemand an die Tür. „Hallo? Emilia? Bist du das?" es ist die Betreuerin, die sich gestern Abend bei mir vorgestellt hat. Ich antworte nicht, sondern schniefe nur weiter. „Mache mal bitte die Türe auf" fordert sie mich ruhig auf und klopft erneut sachte an die Tür. Ich strecke meinen Arm nach oben und drehe das Schloss um. Die Türklinke bewegt sich nach unten und die rundliche Frau steckt ihren Kopf zu mir rein. „Warum sitzt du denn da? Komm hoch, wir reden mal ein bisschen" sie streckt mir mit einem freundlichen Lächeln die Hand entgegen und ich ergreife sie. „Wir gehen am besten mal in den Aufenthaltsraum, da ist noch niemand" schlägt sie vor und legt ihren Arm um mich. Ich will nicht reden. Ich will doch einfach nur nach Hause. Warum versteht das denn keiner?

Herztöne (3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt