Kapitel 3

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Während ich mit wild pochendem Herz und mich immer wieder panisch umschauend von einer Straße in die nächste kämpfe, verfolge ich ein ganz genaues Ziel: das Haus meiner Eltern. Es ist nicht weit entfernt, aber zu Fuß ist es im Dunkeln doch ein ganz schönes Stück - auch, weil ich schon immer Angst vor der Dunkelheit hatte und es nicht gewöhnt bin, diese alleine durchstehen zu müssen. ‚Nur noch fünf Straßen... nur noch vier Straßen... nur noch drei Straßen...' in meinem Kopf zähle ich fleißig jede Straßenecke, jede Laterne und jeden Laden, den ich kenne, mit. Dann ist es soweit: insgesamt eine halbe Stunde nach meinem Verschwinden aus dem Heim stehe ich plötzlich dort, wo ich die letzten 13, fast 14 Jahre glücklich mit meinen Eltern verbracht habe. Da, wo ich auch vor einer Woche noch glücklich war. Aber ich muss schockiert feststellen, dass meine Bemühungen umsonst waren: die Rollladen sind unten, nirgendwo ist ein Licht zu sehen und auch das Auto meines Vaters steht nicht wie gewohnt vor der Garage. Ich schaue zum Briefkasten und sehe, dass dieser komplett am überquellen ist. Stirnrunzelnd trete ich näher und nehme den obersten Brief heraus. Er ist ungeöffnet, so wie auch alles andere. Ich stecke den Briefumschlag wieder zurück und öffne zögernd das Gartentor. Dann gehe ich die drei Stunfen zur Haustür hoch und Klingel mit zitterndem Körper. Mit angehaltenem Atem warte ich gebannt, dass sich im Hausinneren etwas tut, aber es bleibt komplett ruhig. Ich laufe ums Haus herum und finde tatsächlich ein Fenster, bei dem der Rollladen nicht unten ist. Es ist das Schlafzimmer meiner Eltern im Erdgeschoss. Ich hole etwas Anlauf und ziehe mich dann mit einem leichten Sprung am Fensterbrett nach oben, sodass ich hinein schauen kann. Aber was ich dann zu sehen bekomme, lässt mein Herz für einen Schlag aussetzen: das Schlafzimmer ist komplett leer. Alle Möbel sind draußen. Sie sind weg. Meine Eltern haben mich nicht nur von heute auf morgen in ein Heim gesteckt, sondern sind scheinbar auch Hals über Kopf umgezogen. Wie so oft die Tage kommen mir erneut Tränen in die Augen. Ich lasse mich zurück auf den Boden gleiten und sinke auf die Knie. Wo sind sie hin? Wie soll ich sie nur jemals wieder finden? Ich rolle mich schluchzend zusammen und heule wie ein kleines Kind. Stundenlang. Genau dort, wo früher die orangene-gelbe Plastikschaukel stand. Und ich bin froh, dass wir erst die Mitte des Sommers erreicht haben und die Fliesen unter mir nicht sonderlich kalt und der Rasen nicht nass ist. Erst als ich aus der Ferne Sirenen höre, schrecke ich panisch hoch. Die Polizei? Hat jemand aus dem Heim mitbekommen, dass ich weg bin? Vielleicht Lisa und Anna? Ich schnappe mir hektisch meinen Rucksack und als ich bemerke, dass die Sirenen tatsächlich immer lauter werden, haste ich zurück zum Gartentor, ziehe es lautstark hinter mir zu und renne die Straße weiter entgegen meiner hergekommenen Richtung. Ich renne solange weiter, bis die Sirenen wieder leiser sind und ich absolut keine Ahnung mehr habe, wo ich bin. In dieser Wohngegend war ich noch nie, aber in vielen Häusern brennt noch Licht, beziehungsweise kann ich aus einigen Gärten fröhliche Stimmen und das Klirren von Gläsern hören. Wirklich gefährlich scheint es hier nicht zu sein. Es muss eine der etwas gehobeneren Gegenden sein. Ich bleibe kurz stehen, stemme die Hände auf meine Knie und versuche meinen Atem wieder etwas zu regulieren, jedoch bleibt die Angst, von jemandem gefunden zu werden, in meinem Kopf. Ich setze mich auf den Bordstein und hole meine Flasche heraus. Hoffentlich hält mein Wasser für einige Tage - schließlich habe ich nur 5€ für den Notfall dabei. Ich schaue in den Himmel und sehen tausende leuchtende Sterne über mir. „Hallo! Kann ich dir helfen?" ruft plötzlich jemand aus dem Haus hinter mir zu mir raus auf die Straße. Stolpernd springe ich auf und starre zur geöffneten Haustür, wo eine mittelalte Frau mit einem kleinen Kind steht. „Nein, danke... ich wohne gleich da vorne..." Lüge ich, aber ich merke selber, wie wenig überzeugend ich klinge. ‚Scheisse!' schießt es mir durch den Kopf, als die Frau etwas zu dem Kind sagt und es nach drinnen verschwindet, sie die Tür hinter sich zu zieht und zu mir kommt. „Ich habe dich hier noch nie gesehen... du bist ganz schön jung... wo sind deine Eltern? Seit ihr neu hier in der Nachbarschaft?" sie mustert mich so gut es eben im Schein der Straßenlaternen geht. Ich nicke mit einem schwachen Lächeln und umklammere die Gurte meines Rucksacks fester. „Du solltest nicht alleine im dunklen unterwegs sein... diese Welt ist gefährlich. Gerade für euch Kinder und junge Menschen. Komm, ich begleite dich nach Hause" die Stimme der Frau ist sehr ruhig und sanft und ich merke, dass sie mir nur helfen will. „Das ist wirklich nicht nötig... es sind ja nur noch ein paar Meter" versichere ich ihr erneut und schaue angestrengt an ihr vorbei, um ihr nicht in die Augen schauen zu müssen. „Ach was! Mein Gewissen würde es nicht verkraften, wenn ich dich alleine gehen lassen würde. Na los!" fordert sie mich auf und geht mir voraus. Wie in Zeitlupe setze auch ich mich in Bewegung. Und was jetzt?! Ich merke, wie mir schlecht wird und mein Herz wieder schneller schlägt - als hätte ich nie aufgehört, vor der Polizei weg zu rennen. „Welche Hausnummer ist es denn?" die Frau reißt mich aus meinen Gedanken und ich schaue mich kurz um. „79" Lüge ich nuschelnd, als ich am Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine 60 erkenne. „Ach ja, das hat früher mal einer alten Dame gehört, bis sie vor zwei Jahren gestorben ist... seit kurzem wohnt dort ein junger Mann... er hat das Haus ziemlich aufwerten lassen... er muss einen guten Beruf haben. Ist das dein Vater?" fragt die Frau neugierig und schaut zu mir rüber. Ich nicke nur. Hoffentlich ist dieser Mann nicht da! Wenn er die Tür auf macht, wird meine gesamte Geschichte auffliegen... Ängstlich setze ich einen Fuß vor den anderen, bis wir zu meinem Bedauern das Haus mit der Nummer 79 erreichen. Es ist in der Tat sehr groß und sehr schön. Und als könnte es nicht noch schlimmer werden, brennt im Erdgeschoss Licht. Mir wird so schlecht, dass ich das Gefühl habe, mich übergeben zu müssen. „Siehst du? War doch gar nicht so schlimm, oder? Hast du einen Schlüssel dabei, oder müssen wir Klingeln?" flötet die Frau fröhlich und legt ihre Hand auf die Klingel. „Ich habe einen Schlüssel... ich... muss ihn nur raus holen, aber das schaffe ich alleine" erkläre ich schnell und ziehe mir meinen Rucksack ab. „Jetzt sind wir schon hier, jetzt kann ich die paar Sekunden auch warten. Ich habe selber Kinder und wäre unglaublich dankbar, wenn das jemand für sie tun würde!" erklärt sie mir belehrend und ich nicke, während ich in meinem Rucksack wühle - wohl wissend, dass ich natürlich keinen Schlüssel habe. „Und?" fragt die Frau irgendwann ungeduldig und kniet sich zu mir runter. „Ich muss ihn vergessen haben" flüstere ich mit erstickter Stimme, da sich das Strick um meinen Hals immer enger zieht und ich mir alle Tränen verkneifen muss. „Kein Problem!" sie legt ihr Hand auf meine Schulter und drückt auf den weißen, viereckigen Knopf.

Herztöne (3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt