Kapitel 6

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Es schiessen so viele Worte durch den Kopf, dass ich nicht einmal sagen kann, welche es sind. Mein ganzer Körper fängt an zu zittern und ich umklammere meinen Rucksack so fest, dass die Knöchel meiner Hände weiß werden. Weglaufen geht jetzt nicht mehr. Meine Reise ist hiermit beendet. Ich schließe meine Augen und atme tief durch, während ich höre, wie die beiden Polizisten aus ihrem Auto aussteigen. Als ich meine Augen wieder öffne, erkenne ich, dass es zwei relativ junge Polizisten sind. Ein Mann und eine Frau. Der Mann sagt etwas in sein Funkgerät hinein, aber ich kann nicht verstehen, was genau er sagt. „Hallo! Du bist doch Emilia, oder?" die Polizistin lächelt mich warm und freundlich an. Ich schüttle den Kopf. „Du siehst dem Mädchen auf unserem Foto aber sehr ähnlich. Und du hast zufällig auch die selben Klamotten an wie sie. Bist du dir ganz sicher?" sie holt ein Foto von mir heraus und streckt es mir entgegen. Ich zucke mit den Schultern und schaue betreten nach unten auf ihre Schuhe. Lügen bringt scheinbar nichts. Ich zucke erneut kurz mit den Schultern und warte, was als nächstes passiert. „Ah, wir haben also die richtige gefunden" stellt jetzt auch der Kollege der Frau fest. „Bist du Emilia?" wiederholt er jetzt die Frage der Polizistin und ich nicke mit Tränen in den Augen. „Du brauchst keine Angst zu haben. Weder vor uns, noch vor etwas anderem" versucht die junge Frau mich zu beruhigen. Es ist auch keine Angst, die ich empfinde. Eher die Unlust, wieder in dieses chaotische, eklige Heim zu müssen. Frust, Enttäuschung und Unlust. „Komm, wir nehmen dich erst mal mit zu uns auf die Wache. Dort bekommst du etwas zu trinken und zu essen, solange wir auf deine Betreuerin warten. Du wirst sehnlichst vermisst" erklärt sie mir und bringt mich zum Auto. Ich kann sagen und machen was ich will: meine Reise ist hiermit wirklich beendet. Während sich die Frau zu mir nach hinten setzt, steigt der Mann vorne ein und fährt los. Während der Fahrt versucht die Frau mir einige Fragen zu stellen: wo ich herkomme, warum ich weg gelaufen bin, wo ich die ganze Zeit über war, usw. Aber bis auf ab und zu ein Schulter zucken bekommt sie nicht mehr aus mir heraus. Irgendwann gibt sie es dann auch auf. Es ist nicht mehr weit bis zur Wache, trotzdem fühle ich mich mit einem Mal so müde, dass ich für die letzten paar Meter wegdöse und erst wieder aufwache, als das Auto hält. „So. Dann bringen wir dich mal nach drinnen" verkündet die Polizistin, steigt aus und öffnet mir die Tür auf der anderen Seite. „Danke" nuschel ich nur und trotte zwischen den beiden rein in die Wache. Es ist ziemlich ruhig und auf den ersten Blick kann ich niemand andere hier sehen. In einem gemütlichen Aufenthaltsraum darf ich mich aufs Sofa setzen und während der Mann versucht, meine Betreuerin zu erreichen, bringt die Frau mir ein Glas Wasser und zwei Sandwiches. Komplett ausgehungert schlinge ich die Brote in Rekordzeit runter. „Oh, wir haben Besuch" stellt ein weiterer Polizist fest, als er zu uns rein kommt, um seine Tasse weg zu bringen. „Ja, das ist Emilia" verkündet die Frau, aber ich bin mir sicher, dass sie es nur tut, um mir nicht unter die Nase zu reiben, dass mittlerweile ganz Köln aufgrund meines Verschwindens weiß, wer ich bin. „Hi Emilia! Ich bin Paul" der Polizist streckt mir seine Faust zum einschlagen hin. Ich lächle leicht und mache ihm die Freude. „Ich erreiche sie aktuell nicht..." ertönt jetzt die Stimme des ersten Polizisten, der seinen Kopf zu uns rein streckt. ‚Na Gott sein Dank' denke ich und lehne mich zurück in die weichen Kissen. „Kannst du Schach spielen?" fragt der zweite Polizist mich und grinst erfreut. Ich schüttle den Kopf und reibe mir die Augen. „Komm, ich bringe es dir bei" er macht eine Kopfbewegung zum angrenzenden Raum. Zögernd umklammere meinen Rucksack und stehe auf. „Den kannst du ruhig hier lassen" sagt die Polizistin sanft. „Ich passe darauf auf" setzt sie hinterher, als ich den Kopf schüttle. Ich denke kurz nach, dann hole ich mein Kuscheltier - ein brauner Stoffbär - heraus und folge dem Polizisten dann ohne Rucksack. Im Nachbarraum ist sowohl ein Schachtisch, als auch ein Billardtisch und eine Dartscheibe. Ich bleibe wie angewurzelt vor dem Billardtisch stehen und starre ihn an. „Oh... willst du lieber Billard spielen?" fragt Paul lächelnd und ich nicke. „Na gut... hast du es schon mal gespielt?" fragt er auch dieses Mal, aber wieder schüttle ich den Kopf. „Okay... sag mal, hat dein Bär einen Namen?" fragt er weiter und ich nicke. Wobei der Name eigentlich kein Name ist, aber trotzdem nenne ich ihn schon immer so. „Bär" antworte ich. Paul lacht. „Was? Dein Bär heißt Bär?" ich nicke. „Na gut. Was hältst du davon, wenn wir Bär auf den Schachtisch setzen, dann kann er von dort aus zuschauen?" er streckt seine Hand nach meinem Bären aus und ich reiche ihm ihn. Er macht, was er vorgeschlagen hat, kommt dann zu mir zurück und reicht mir meine ‚Ausrüstung'. Interessiert betrachte ich den langen Holzstab und die Kugeln auf dem Tisch. „Ich erkläre dir mal die Spielregeln" verkündet Paul und holt Luft. Ich höre ihm zu und versuche mir alles zu merken, anschließend versuche ich, seine Worte in die Tat umzusetzen. „Gar nicht so schlecht" zwinkert Paul, als ich im dritten Versuch meine erste Kugel versenke und auch ich muss lächeln. „Noch zwei Stunden, dann bist du besser als wir alle hier" sagt er und schießt an seiner Kugel vorbei. Ich muss kichern und mache mich für meinen nächsten Zug bereit. Es ist lange her, dass ich das letzte mal mit jemandem gespielt habe. Über die Zeit im Heim brauche ich diesbezüglich gar nicht erst zu sprechen, aber auch zuhause ist es schon eine ganze Weile her gewesen, da meine Eltern die Wochen bevor sie mich abgegeben haben kaum Zeit hatten... sie waren viel in ihrem Büro und oft habe ich sie streiten gehört. Aber das Spielen mit Paul macht sogar richtig Spaß. Wir spielen eine Runde nach der anderen und ich vergesse immer mehr die Zeit und auch die Tatsache, dass ich ja eigentlich nur darauf warte, dass meine Betreuerin mich abholt und zurück ins Heim bringt.

Herztöne (3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt