Kapitel 30

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Ich schaue mich nervös nach Paul um. Nicht, weil ich ihn hierher wünsche, sondern weil ich Angst habe, er könnte uns hören. „Hast du Angst, dass Paul uns hört?" spricht Frederik meinen Gedanken laut aus und ich nicke. „Hm... sollen wir lieber woanders reden?" fragt er und ich zucke zögerlich mit den Schultern. „Mein Haus kennst du ja schon... sollen wir dahin? Ich bringe dich danach auch wieder zurück" mit einem Mal klingt er deutlich freundlicher als bei unseren letzten Treffen. „Ich... weiß nicht..." entgegne ich fast schon ängstlich. „Ich tue dir nichts... es gibt nicht nur böse Menschen da draußen. Merke dir das. Schaue dir Paul und mich an. Wir sind harmlos" er hebt unschuldig die Hände. Okay. Es besteht absolut kein Zweifel mehr daran, dass er ahnt, was in meinem Leben abgeht. Bei so vielen Bemerkungen wie er durch er sie die Blume macht, kann ich eigentlich auch direkt sagen, was los ist. „Okay" flüstere ich und nicke leicht. Er steht auf und verschwindet die Treppe hoch, um Paul Bescheid zu sagen. Wie bin ich bloß in dieser beschissenen Situation gelandet?! Ich warte bis Frederik zurück kommt, dann machen wir uns auf den Weg zu ihm.

„Komm rein. Ich zeige dir auch mehr als meinen Flur" er zwinkert und geht mir voraus. Mit ernstem Blick folge ich ihm. Mir ist gar nicht nach lachen zumute. Im Wohnzimmer setze ich mich sichtlich angespannt aufs Sofa. „Willst du was trinken?" fragt er ruhig, aber ich schüttle den Kopf und schaue mich unauffällig um. Das Haus ist ziemlich schlicht, aber hoch modern. Zugegeben: er hat einen äußerst guten Geschmack was Möbel und Mode angeht! „Bin gleich da" verkündet er und verlässt den Raum. Wenig später kommt er mit einem Glas Wasser zurück. „Also. Was ist passiert? Und glaube bloß nicht, dass du mich anlügen könntest - ich spüre so etwas sehr schnell" er lehnt sich zurück, faltet seine Hände ineinander und betrachtet mich mit einem doch recht warmen Gesichtsausdruck. „Ich will weg von zu Hause" antworte ich mit erstickterem Stimme und bemerke einen Stich in meinem Herzen, weil ich unweigerlich auch an Elisabeth denken muss, die ja gar nichts dafür kann. „Willst du weg von zuhause oder willst du nur, dass jemand zuhause weg ist, damit du dich wieder wohl fühlst?" Frederik blinzelt nicht ein Mal. „Weiß nicht" lüge ich murmelnd. „Okay. Du willst weg von zuhause. Was erhoffst du dir denn, was dann besser wird?" „das weiß ich auch nicht... ich... möchte wieder entspannt schlafen können... ich bin müde... und kaputt..." entgegne ich. „Und warm kannst du nicht schlafen?" ich fühle mich wie damals bei meiner Psychologin. Als Antwort schweige ich. „Vielleicht weil dein ‚Vater' etwas damit zu tun hat?" er zieht gekonnt eine Augenbraue hoch. „Okay, ich glaube das wird mir zu viel!" Murmel ich und stehe vom Sofa auf. Die Gedanken in meinem Kopf fahren Karussell. Ich habe Schmerzen - sowohl körperlich, als auch psychisch. Und ich würde gerne mit jemandem darüber reden... Platz in meinem Kopf schaffen. Aber mit Paul kann ich nicht reden, weil er Elisabeth und Jakob schon so lange kennt. Und weil er Polizist ist. Mit Frederik könnte ich reden, will es aber nicht, weil ich ihn nicht kenne und er mir ein paar Schritte voraus und damit zu schnell ist. Mir ist mit einem Mal wieder extrem schlecht. Ich muss an meine Eltern denken. An meine richtigen Eltern. Was würde meine Mama jetzt wohl sagen? Wahrscheinlich nichts, weil ich mich niemals trauen würde, den Scham beiseite zu schieben um es ihr zu erzählen. Aber wenn ich es tun würde, würde sie mich in den Arm nehmen und mir sagen, dass alles gut werden würde. Und ich würde es ihr sofort glauben. Denn sie hatte sogut wie immer recht. Ich merke, wie mir Tränen in die Augen kommen. Nervös laufe ich im Zimmer herum und spiele dabei aufgebracht mit meinen Händen. „Wir möchten dir alle helfen!" Frederik steht auf, kommt zu mir und hält mich an den Schultern fest, damit ich stehen bleibe. Ich blinzle mit skeptischem Blick zu ihm auf. „Wirklich! Ich weiß, es war nicht nett, dass ich dir auf der Hochzeit nichts gesagt habe... ich wollte wirklich nur deinen Abend nicht kaputt machen. Das musst du mir glauben!" sein Gesichtsausdruck ist irgendwie... traurig. Ich nicke nur leicht und lasse den Kopf dann wieder hängen. „Wenn du schon nicht mit Paul reden willst... oder deinen Eltern... dann sag es mir. Ich behalte es für mich! Egal was es ist: ich werde es niemandem sagen! Das verspreche ich dir hoch und heilig! Du wirst sehen, danach wird es dir tausend mal besser gehen! Du siehst nämlich wirklich nicht gut aus und ich vermisse dein fröhliches Gesicht von der Hochzeit. Das hat dir viel besser gestanden!" Frederik lässt mich wieder los und tritt einen Schritt zurück. „Ich kann nicht!" erkläre ich mit erstickter Stimme und fange wieder an zu weinen. Meine Angst, die Wut und der Scham sind einfach zu groß. Das wird mir in diesem Moment das erste mal richtig bewusst. Diese Empfinden sind größer als das Bedürfnis, mit jemandem darüber zu reden. Und solange das der Fall ist, werde ich ohne Hilfe leben müssen. „Ich möchte jetzt wirklich nach Hause!" schluchze ich und wische mir im Sekundentakt die Tränen von den Wangen. „Oder willst du hier schlafen? ... hier musst du keine Angst haben... und ich fahre dich auch morgen früh direkt nach Hause... oder zu Paul. Oder Paul soll dich von hier nach Hause bringen... ich habe ein Gästezimmer, da könntest du vielleicht ein wenig kraft tanken" bietet er mir an. „Hör mal... Paul und ich sind befreundet. Ich arbeite als Arzt im Krankenhaus - du kannst mir vertrauen! Ich kann es mir weder leisten meinen Beruf, noch die Freundschaft zu Paul zu verlieren. Ich will helfen. Ärzte sind wie Polizisten. Wir wollen nur helfen! Auch wenn du mich nicht kennst... ich bin einer von den guten" setzt er hinterher, nachdem ich ihn weiterhin skeptisch begutachte. Dann lächelt er  sanft und ich merke wieder, wie sehr mich seine Augen und dieses perfekte Lächeln in Kombination mit den perfekten Haaren beeindrucken. Und mal ehrlich: was habe ich schon zu verlieren?

Herztöne (3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt