Kapitel 35

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Im Krankenhaus angekommen schleppt Frederik mich nach der Anmeldung widerwillig zum Aufzug. Die Sekunden bis wir im dritten Stockwerk ankommen, fühlen sich ewig an. Vielleicht aber auch nur, weil eine drückende Stille zwischen uns herrscht. Während Frederik nervös mit seinen Fingern gegen die Wand hinter sich trommelt und an die Decke des Aufzuges starrt, schaue ich zusammengekauert und mit verschränkten Armen auf den Boden. Mit einem leisen *ping* verkündet uns der Aufzug die Ankunft und öffnet seine Türen. Ich atme tief durch und laufe Frederik dann hinterher, der ziemlich flott unterwegs ist. Vor einem Schwesternzimmer bleibt er stehen. „Warte kurz hier" bittet er mich, verschwindet hinein und schließt die Tür hinter sich. Es ist das erste mal seit ich aufgewacht bin, dass ich alleine bin. Und weil ich es die letzten Stunden geschafft habe, meine Tränen zurückzuhalten, weil ich in Frederiks Gegenwart nicht noch schwächer rüber kommen wollte, merke ich jetzt, wie mir mit einem Mal ein ganzer Schwall Tränen plötzlich über die Wangen läuft. Etwas erschrocken darüber wische ich sie mir schnell immer wieder mit dem Handrücken weg, aber es hilft nicht. Ich entdecke einen Stuhl nur wenige Meter entfernt vom Zimmer, auf den ich mich rette. Stumm weinend mache ich mich möglichst klein und denke an Elisabeth, die jetzt wohl mit Jakob zuhause am Frühstückstisch sitzen wird und denkt, dass ich mit Paul unterwegs bin - denn der hat mir mit Sicherheit wieder ein Alibi gegeben, anderenfalls hätte Elisabeth bereits versucht mich zu erreichen. „Wo ist sie denn?" eine Schwester streckt suchend den Kopf aus dem Zimmer. „Sie ist... da drüben" Frederik folgt ihr auf den Flur und zeigt auf mich. Mit einem Lächeln im Gesicht kommt sie zu mir. „Hallo! Mein Name ist Miriam. Ich bin eine der Diensthabenden Schwestern hier heute. Wenn es für dich okay ist, würde ich dich schon mal mit ins Untersuchungszimmer nehmen und alles für die Ärztin vorbereiten" ihre Stimme ist ruhig und sanft. Ich nicke schwach, wische mir aber weiterhin die Tränen von der Wange. Etwas Hilfesuchende schaue ich noch einmal über meine Schulter zu Frederik, als ich aber sehe, dass er mit einem anderen Arzt am reden ist, konzentriere ich mich auf die Schwester. Die Ärztin kommt nur wenige Minuten nachdem die Schwester mir im Zimmer eine kurze Aufklärung über das, was gemacht wird gegeben hat und ich muss zugeben: trotz laut klopfendem Herz und unbeschreiblicher Anspannung ist es am Ende doch nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe. Leicht schniefend komme ich den Gang entlang zurück zu Frederik, der mittlerweile am Handy tippend auf meinem Stuhl sitzt. Als er mich bemerkt, schaut er auf. „Fertig?" fragt er und ich nicke. „War's schlimm?" fragt er weiter, aber dieses Mal schüttle ich den Kopf. „Dann warten wir mal noch kurz, bis der Brief fertig ist. Wo soll's danach weiter gehen? Soll ich dich zu Paul bringen? Der spamt mich hier ziemlich zu... oder lieber wieder zurück? Zu deinen Eltern würde ich dich nur höchst ungern bringen..." er steht auf und streicht sich sein Hemd zurecht. „Ich weiß es nicht" gestehe ich ratlos und zucke unschlüssig mit den Schultern. „dann würde ich vorschlagen, dass wir zurück zu mir gehen, du in der Zeit mal mit Paul redest und dann schauen wir weiter" verkündet Frederik und geht mir voraus zurück zum Aufzug. „Aber früher oder später muss ich wieder nach Hause!" protestiere ich, jedoch wirft er mir dafür nur einen missbilligend Blick zu. „Nein! Du musst nicht nach Hause. Darüber könnte ich dir jetzt einen ausführlichen Vortrag halten, aber du kannst dir meine Worte denken, oder?" gibt er grimmig zurück und ich nicke schüchtern. Trotzdem weiß ich auch, dass es nicht so einfach ist, wie er das im Moment darstellt.

Zurück bei ihm zuhause rufe ich Paul an, druckse jedoch nur herum, weil ich ihm nach wie vor nicht erzählen will, was passiert ist und warum ich bei Frederik bin. „Emilia, ich erkenne dich immer weniger wieder... du hast zwischendurch so Phasen, da bist du so... unberechenbar und... mir so fremd. Ich weiß echt nicht mehr, was ich machen soll! Wie lange, beziehungsweise wie oft soll ich noch dein Alibi sein?" Paul klingt während des Gespräches irgendwie... enttäuscht. Aber auch sauer. Eine Mischung aus beidem. Und ich merke, wie sehr es mir einen Stich ins Herz versetzt. „Es tut mir leid! Ich erzähle es dir irgendwann. Versprochen!" beteuere ich, aber als Antwort legt er nur auf. Ich stoße hörbar laut die Luft aus. „Ich glaube, ich würde jetzt doch gerne nach Hause" verkünde ich Frederik, als ich zu ihm ins Esszimmer komme. „Nach Hause?" er schaut mich an, als würde ich chinesisch reden. „Nach Hause! Ich danke dir vielmals für deine Hilfe und dein offenes Ohr, aber ich muss jetzt echt ein paar Dinge erledigen!" rutscht es mir wütender und arroganter raus, als es eigentlich geplant war. „Alles klar" entgegnet Frederik genauso kalt, steht auf und verschwindet in den Flur. Toll. Der Tag wird ja immer besser! Ich folge ihm genervt, ziehe mich wieder an und folge ihm dann erneut nach draußen zum Auto. Wir schweigen auch jetzt wieder die gesamte Zeit über, bis wir vor dem Haus von Elisabeth und Jakob ankommen. „Danke. Wenn dir was einfällt, wie ich das wieder gut machen kann, lass es mich über Paul wissen" sage ich nur zu Frederik, schnalle mich ab und steige aus. Ohne noch einmal zurück zu schauen, verschwinde ich nach drinnen.

Jakob ist zum Glück arbeiten und auch Elisabeth finde ich nirgendwo. Somit gehe ich nach oben in mein Zimmer, wo ich den Arztbrief aus meiner Tasche hole, mich vor mein Fenster auf den warmen Boden setze und ihn mit zittrigen Händen durchlese. Da habe ich alles nun schwarz auf weiß. Zumindest dieses eine mal. Als ich das Ende der Seite erreiche, falte ich ihn schnell wieder zusammen und in den Umschlag und lehne mich gegen die ebenfalls erwärmte Scheibe. Eigentlich müsste ich heute wie alle anderen Jugendlichen in meinem Alter im Freibad sein, mit Freundinnen shoppen und Eis essen, mit meinem Freund abends ins Kino oder Pizza essen gehen, oder was auch immer. Aber nicht heulend und mit den Nerven am Ende hier in meinem Zimmer sitzen und überlegen, wie mein Leben weiter gehen soll. Aber ich bin nicht wie alle anderen. Ich bin es nicht und ich war es auch noch nie. Und ich werde es nachträglich auch nicht mehr ändern können - auch wenn ich nichts lieber als das tun würde!

Herztöne (3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt