Kapitel 40

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Der Abend wird schlimmer als erwartet. Es herrscht regelmäßig eine peinliche und drückende Stille zwischen uns, da ich es nicht schaffe, Elisabeth in die Augen zu schauen. Und auch Anna will ich nicht unbedingt anschauen vor lauter Scham. Paul versucht dauerhaft die Stille zu füllen, gibt es aber auch irgendwann auf. Während Elisabeth es sich zum schlafen auf dem Sofa bequem macht, schickt sie mich ins Gästezimmer. In dieser Nacht mache ich aber nicht eine Sekunde die Augen zu. Ich drehe mich von einer Seite auf die andere und springe von einem Gedanken zum nächsten. Was Jakob jetzt gerade macht? Wie es bei Frederik sein wird? Ob Elisabeth in dem Haus bleibt? Was wird aus dem Restaurant von Jakob? Und Elisabeths Yoga-Studio? Und aus mir? Und überhaupt?!

Frederik kommt am nächsten morgen direkt nach dem Frühstück. Ich habe meine Sachen erst gar nicht ausgepackt, weshalb ich auch direkt Abfahrbereit bin. Ich verabschiede mich kurz von Paul, Anna und Elisabeth mit einer kurzen Umarmung und folge ihm dann schweigend nach draußen zum Auto. „Also. Was muss ich tun, dass du dich wohl fühlst?" fragt Frederik während der Fahrt, ohne seinen Blick von der Straße zu nehmen. Ich zucke mit den Schultern und schaue aus dem Fenster. „Du darfst es mir nicht schwerer machen, als es eh schon ist!" protestiert er und schaut jetzt doch zu mir. „Ich überlege es mir" Lüge ich, schließe meine Augen und lehne meinen Kopf gegen die Scheibe. „Hör mal... falls heute Nacht etwas sein sollte... leider komme ich ja direkt aus dem Beruf... viele Betroffene bekommen nachts häufig Albträume... du kannst jederzeit zu mir kommen... egal, ob ich schlafe oder nicht. Aber auch tagsüber. Bitte scheue dich nicht, okay?" er knufft mich vorsichtig in die Seite. Ich öffne meine Augen wieder und nicke. Ein paar Minuten später kommen wir bei ihm an und ich fange in den bereits bekannten Zimmer an, meine Tasche auszupacken. Ich verbringe den gesamten Tag damit, mich in die Decke zu kuscheln und Musik über mein Handy zu hören.

Frederik soll mit seiner Aussage recht behalten: in den ersten Nächten träume ich noch nichts, vielleicht aber auch nur, weil ich kaum zum schlafen komme, etwa eine Woche nachdem ich Paul in mein Geheimnis eingeweiht habe und Jakob festgenommen wurde, tauchen das erste mal Albträume in meinem Kopf auf.

Schweißgebadet und zitternd sitze ich mit einem Mal senkrecht im Bett. Vor meinem inneren Auge sehe ich Sterne und ich habe das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Schnell schlage ich die Decke zur Seite und stolpere im Dunkeln zu meiner Tür. Zu meinem Bedauern stelle ich fest, dass Frederik seine Tür am anderen Ende des Flures offen hat und er scheint auch noch wach zu sein, denn ich kann Fernsehergeräusche wahrnehmen. Ich versuche so leise und gleichzeitig so schnell wie möglich ins Badezimmer zu schleichen, schließe mich ein und Taumel zum Waschbecken. Der Traum war schlimm. Sehr schlimm sogar. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals zuvor so schlecht geträumt zu haben. Ich stütze mich mit feuchten Händen am kalten Waschbecken ab und hänge mein Gesicht darüber. Leicht keuchend versuche ich meinen viel zu schnellen Puls etwas zu kontrollieren und wieder runter zu bekommen. Aber es hilft nichts: wenig später beuge ich mich über die Toilette und übergebe mich schwallartig. Das kalte Wasser anschließend im Gesicht tut zwar irgendwie gut, meine Situation verbessert es aber nicht. Ich versuche so leise wie möglich wieder die Badezimmertür zu öffnen, als ich aber in den Flur hinaus trete, steht Frederik mit verschränkten Armen in seiner Tür. Innerlich verdrehe ich die Augen. „Ist alles okay?" fragt er und ich nicke. „Du siehst nicht so aus... kann ich was für dich tun?" er kommt ein paar Schritte auf mich zu. Oh man, warum sieht er nur immer so gut aus? Ich schiele unauffällig auf seinen nackten, perfekt trainierten Oberkörper. „Nein... alles gut... nur schlecht geschlafen" antworte ich ehrlich nuschelnd. „Du solltest trotzdem noch mal versuchen zu schlafen" „wie viel Uhr ist es denn?" frage ich zurück, ohne ihn anzuschauen. „Halb zwei. Also mitten in der Nacht" „warum schläfst du nicht?" ich schaue angestrengt auf den Boden. „Ich komme gut mit wenig Schlaf zurecht... wollte den Film noch fertig schauen" „Okay" flüstere ich und warte, was als nächstes geschieht. „Schlafe noch mal" wiederholt er, dreht sich um und geht zurück in sein Schlafzimmer. Auch ich mache mich auf den Weg zurück in mein Bett. Mit offenen Augen und an die Decke startend höre ich dem Ticken der Uhr an der wand gegenüber zu. Meine Angst vor einem neuen Traum in diesem Ausmaß ist größer als die Müdigkeit. Vielleicht hat Frederik recht und ich sollte mich um einen Psychologen kümmern - davor habe ich mich die letzte Woche gedrückt. Ich habe mich insgesamt vor vielem gedrückt: seit Jakobs Verhaftung vor 7 Tagen war ich nicht in der Schule, habe weder Elisabeth, noch Paul gesehen (mit letzterem habe ich ausschließlich geschrieben, da es mir von Tag zu Tag schwerer fällt, meinem Umfeld ins Gesicht zu schauen und die Schuldgefühle immer größer werden), das Yoga Training habe ich vorerst pausiert und auch meine Schulsachen habe ich seitdem nicht angerührt. Meine Klamotten liegen nach wie vor in meiner Tasche und ich versuche mich davor zu drücken sie auszupacken, auch wenn ich weiß, dass ich wohl erst einmal länger hier bleiben werde. Kurz gefasst: ich schleiche den Tag über vom Badezimmer in mein Zimmer und wieder zurück, ab und zu runter in die Küche oder wenn Frederik arbeiten ist ins Wohnzimmer. Zwei mal haben wir zusammen gekocht, wobei ich gestehen muss, dass wir nie wirklich viel miteinander geredet haben. Es fällt mir schwer ihm gegenüber. Wahrscheinlich auch, weil ich schon immer sehr schüchtern gegenüber fremden Menschen war - und jetzt lebe ich auch noch bei einem. Bei einem, der mir schon so viel geholfen hat, ohne auch nur eine kleine Gegenleistung zu erwarten. Das macht es meinem aktuellen Gewissen nicht unbedingt leichter. Aber da muss ich jetzt wohl durch. Und zwar durch alles.

Herztöne (3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt