Kapitel 21

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„Oh Gott, da bist du ja! Wir haben uns so Sorgen gemacht! Was machst du denn so früh am Neujahrstag alleine draußen? Wir wollten doch frühstücken..." Elisabeth begrüßt mich total aufgelöst und mit einer festen Umarmung. „Alles okay" lächle ich nur schwach und versuche Jakob, der hintendran steht und seinen Blicken auszuweichen. „Wo wart ihr? Paul, was ist los? War sie bei dir?" Elisabeth lässt nicht locker. „Paul hat nichts damit zu tun... ich hatte nur Bauchschmerzen und er hat mich zum Arzt gebracht" verteidige ich ihn schnell, bevor er überhaupt etwas sagen kann. „Zum Arzt? Aber warum sagst du uns denn nichts?!" „ihr habt noch geschlafen... ich wollte euch nicht wecken" ich löse mich wieder aus Elisabeths Umarmung. „Wo warst du denn beim Arzt? Hat denn überhaupt einer offen?" fragt Jakob jetzt und ich spüre, wie sehr er mich im Auge hat. „Alles gut, wir waren kurz im Krankenhaus. Ging auch ganz schnell und es war alles okay" verkündet Paul jetzt. Am liebsten würde ich ihm gegens Schienbein treten für diese Aussage, aber er wüsste ja nicht einmal warum. „Im Krankenhaus?" fragt Jakob monoton, während er mich eindringlich anschaut. Ich merke, wie ich einen Kopf kleiner werde. „Ist nicht schlimm... Hauptsache, es geht dir gut!" Elisabeth küsst mich auf die Wange. „Komm, lass uns was essen..." setzt sie direkt hinterher. „Ich verschwinde dann mal wieder..." Paul winkt kurz und verlässt das Haus dann. Ich folge Elisabeth ins Esszimmer, wo der Tisch noch gedeckt ist. „Du siehst gar nicht gut aus! Komm, wir päppeln dich mal wieder etwas auf. Tee oder lieber Kakao?" fragt sie verschwindet in Richtung Küche. „Tee" rufe ich ihr hinterher und schaue ängstlich zu Jakob, der auf der anderen Seite des Tisches steht und mich nach wie vor ununterbrochen anstarrt. „Hast du jemandem was gesagt?!" flüstert er, aber ich schüttle den Kopf. „Denke nicht einmal darüber nach!" er ballt seine Hände vor Wut zu Fäusten. Ich nicke und schaue dann angestrengt auf meinen Teller. „So, Bitteschön" Elisabeth stellt mir wenig später eine Tasse hin und setzt sich gegenüber von mir neben Jakob. „Du wirst sehen: mit vollem Magen sieht die Welt gleich ganz anders aus!" sie lächelt mich liebevoll an und reicht mir ein Brötchen. „Danke" ich lächle zurück und konzentriere mich dann aufs Essen. Danach besteht Elisabeth darauf, dass wir uns gemeinsam aufs Sofa setzen und über alles aus den letzten Wochen reden: die Schule, meine Eltern und die Beerdigung, das Yoga, meine Ferien und eben auch mein heutiger Ausflug ins Krankenhaus. Erst als sie das Gefühl hat, dass ich ihr alles erzählt habe, lässt sie mich wieder in Ruhe. Ich weiß ihre Bemühungen auf der einen Seite sehr zu schätzen, auf der anderen Seite habe ich manchmal das Gefühl, dass sie vergisst, dass ich fast volljährig bin. Oder sie nutzt das letzte halbe Jahr, bevor ich es eben bin und sie deutlich weniger Macht mehr über mich hat. „Ich muss jetzt noch mal ins Studio... Neujahresyoga. Ich kann dich heute leider ausnahmsweise nicht mitnehmen... außerdem bist du meiner Meinung nach eh zu kaputt. Nächste Woche wieder, okay?" sie küsst mich auf die Haare, während ich ihr mit offenem Mund hinterher schaue. „Ich gehe dann mal... spazieren" Murmel ich und will aufstehen, aber Jakob hält mich zurück. „Ich würde mich auch gerne mal ein bisschen mit dir unterhalten" entgegnet er ruhig und höflich und drückt mich zurück aufs Sofa. Ich hole tief Luft. Kaum ist die Haustür ins Schloss gefallen, baut er sich auch schon groß vor mir auf. „INS KRANKENHAUS?! GEHTS NOCH? Du hattest noch NIE Bauchschmerzen, wegen denen du OHNE UNS ins Krankenhaus bist! Ich habe dir gesagt, du sollst still bleiben und was macht du?! DU HÄLTST DICH NICHT AN DIE REGELN!" er zieht mich vom Sofa hoch und schüttelt mich an den Schultern. „Ich habe niemandem was gesagt! Ich wollte nur Paul sehen... und damit er keinen Verdacht schöpft, warum ich so verheult bin, habe ich gesagt ich hätte Bauchschmerzen... er hat selber gemerkt, dass etwas nicht stimmt" schluchze ich und versuche seinen Griff zu lösen, da er doch ziemlich fest und schmerzhaft ist. „Du wirst Paul erst mal nicht wiedersehen, ist das klar? Er wird vorerst nur noch hierher kommen, wenn du in der Schule, beim Yoga oder sonst wo bist. Hast du mich verstanden?! Und komme bloß nicht auf die Idee, es heimlich zu probieren!" flüstert er und drückt mich an die wand. „Ich verspreche es!" hauche ich und schließe meine Augen. „Warum glaube ich dir nicht? Du lügst mich an!" er drückt noch fester zu. „Ich brauche Paul! Er ist mein bester Freund!" verteidige ich mich, da er tatsächlich recht hat. Natürlich hätte ich versucht, mich heimlich mit Paul zu treffen. „Warum bist du so geworden? Ich habe dir doch nichts getan!" schluchze ich und lasse den Kopf hängen. Jakob lässt mich zu meiner Überraschung verwirrt blinzelnd los, als wäre ihm soeben aufgefallen, was er alles angerichtet hat. „Wir haben jahrelang versucht dir alles zu ermöglichen... ich habe immer versucht, ein guter Vater-Ersatz zu sein... und jetzt machst du alles kaputt... ich bitte dich doch nur um einen klitzekleinen gefallen!" flüstert er. „Ich brauche Paul!" wiederhole ich leise flüsternd, ohne auf seine Worte einzugehen, jedoch war das eindeutig das schlimmste, was ich in diesem Moment hätte tun können. „KEIN PAUL!" schreit Jakob und schlägt mir mit seiner Faust ins Gesicht. Von der Wucht überrumpelt stürze ich rückwärts gegen die Wand und sinke benommen auf den Boden. Meine Hände drücke ich gegen die Nase, aus der das Blut nur so strömt. Für ein paar Sekunden höre ich ein lautes piepsen in meinen Ohren, dann wird mein Umfeld langsam wieder scharf. Schockiert starre ich auf meine blutverschmierten Hände und mein Shirt, das rot gesprenkelt ist. Mein Mund schmeckt durch und durch nach Eisen. „Oh mein Gott... scheisse..." Jakob kniet sich entsetzt und blass vor mich. „Fuck, das wollte ich nicht!... es tut mir leid!... es tut mir leid... oh mein Gott... warte... warte kurz..." er steht auf und verschwindet aus dem Raum. Wenig später kommt er mit feuchten Waschlappen zurück. „Es tut mir leid! Ich wollte das nicht! Ich... ich... ich wollte das nicht! Ich... es tut mir leid..." stammelt er immer und immer wieder und als ich zu ihm aufschaue, sehe ich, dass er Tränen in den Augen hat. „Es tut mir leid!" er reicht mir einen Waschlappen nach dem anderen und stammelt die ganze Zeit vor sich hin. „Es tut mir leid! Soll ich Hilfe holen? Willst du was trinken? Ich... ich wollte dir nicht weh tun! Ich würde dir niemals weh tun wollen!" betont er und legt seine Hand auf meine Schulter. „Schon okay..." Murmel ich geblendet von den Schmerzen. So wie seine Stimme klingt, glaube ich es ihm sogar fast. Aber gerade dann hat er ein ganz schön großes psychologisches Problem und sollte sich dringend helfen lassen. Denn das entschuldig sein Vater in keinster Weise. Dieser Mann scheint unberechenbar zu sein. „Bitte sei nicht sauer! Bitte... es tut mir so leid! Ich habe dich wirklich gerne... ich... will nur dein bestes!" stammelt er immer weiter und fuchtelt unschlüssig mit seinen Armen herum. „Es ist okay" wiederhole ich und versuche aufzustehen. Er hilft mir und mit zittrigen Knien bleibe ich an die wand gelehnt stehen. „Komm, setz dich... ich hole dir was zu trinken.... Und eine Decke..." nuschelt er und verschwindet wieder. Ich lasse mich kraftlos aufs Sofa fallen und schließe die Augen. „Zeig mal her!" fordert Jakob mich auf, nachdem er mir ein Glas Wasser hingestellt und eine dünne Decke über meine Schultern gelegt hat. Ich löse vorsichtig den Waschlappen unter meiner Nase, merke jedoch, dass es sofort weiter blutet. „Oh man... ich habe das nicht gewollt!" schluchzt Jakob jetzt und legt sein Gesicht in seine Hände. „Es ist okay!" wiederhole ich zum dritten Mal und schließe meine Augen. Mit einem Mal fühle ich mich unwahrscheinlich müde und kaputt. Eigentlich habe ich sowohl Elisabeth, als auch Jakob unwahrscheinlich gerne. Dafür sind sie mir die letzten Jahre zu sehr zur Seite gestanden, haben mich unterstützt und versucht jeden noch so kleinen Traum zu erfüllen. Ohne sie wäre ich nicht das, was ich heute bin. Und innerlich hoffe ich, dass ich es einfach schaffe, die letzten Tage irgendwie zu vergessen und von nun an wieder alles gut sein wird.

Herztöne (3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt