Kapitel 77

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Benommen steige ich von meinem Fahrrad. Insgesamt drei Wochen ist es jetzt her, dass ich von meiner Schwangerschaft erfahren habe. Und heute? Heute muss ich für meine Entscheidungen gerade stehen. Ich schließe das Fahrrad mit zittrigen Händen ab und richte mich dann wieder auf. Die Mittagssonne knallt direkt auf mich runter. Es ist der erste richtige Sommertag - eigentlich ein Grund zu Freude, aber stattdessen merke ich Tränen in meinen Augen aufsteigen. Nein! Jetzt bloß nicht anfangen zu heulen! Ich ermahne mich selber immer wieder, während ich mich mit butterweichen Knien die Treppen nach oben bis ins 2.OG kämpfe. Keuchend komme ich vor der weißen Praxistür an. In gut einer Stunde werde ich hier wieder raus gehen. Ich schließe meine Augen und will mich gerade auf den bevorstehenden Termin konzentrieren, da klingelt mein Handy. Es ist Paul. Wie immer. Seit eineinhalb Wochen wimmel ich ihn gekonnt ab - kein Anruf, keine WhatsApp, kein Besuch. Ich fühle mich unbeschreiblich schlecht deswegen, aber Elisabeth muss da genauso durch. Frederik hat das Glück, dass ich zufällig bei ihm wohne, sonst würde ich auch ihn aus meinem Leben aktuell ausgrenzen. Zu vieles läuft im Moment einfach schief. Ich schalte mein Handy kurzerhand aus und trete ein in die Praxis. Es ist zum Glück relativ leer - vielleicht auch nur weil es erst kurz vor 12 Uhr ist und die meisten ja um diese Zeit arbeiten müssen. Wobei... Schwangere zählen wohl zu den Ausnahmen. Trotzdem will ich mich nicht beklagen - ein volles Wartezimmer hätte ich wahrscheinlich nicht ertragen. Ich gehe wie in Zeitlupe auf den Tresen zu und warte darauf, dass ich mich anmelden darf. „Oh super! Haben Sie alle Zettel schon ausgefüllt dabei, oder brauchen sie noch welche?" fragt die Sprechstundenhilfe höflich und anstatt ihr zu antworten, reiche ich ihr einfach nur die bedruckten DIN-A-4 Blätter. „Nehmen Sie bitte noch kurz Platz, sie werden gleich aufgerufen" lächelt die hübsche Frau hinter dem Tresen jetzt und ich nicke, drehe mich um und verschwinde. Jetzt entdecke ich tatsächlich ein Pärchen ganz hinten in der Ecke sitzen. Der Mann hält die Hände seiner Frau in seinen und redet ihr ein paar leise Worte zu. Sie nickt immer wieder abwesend und starrt dabei auf den Holzboden. Unterstützung könnte ich heute in der Tat auch gut gebrauchen - aber von wem? Eine beste Freundin wäre jetzt genau das richtige, aber die habe ich einfach nicht. Und das merke ich vor allem in letzter Zeit immer wieder schmerzlichst. Ich wende meinen Blick von den beiden wieder ab und starre aus dem Fenster. Es dauert nicht lange, da werden die anderen beiden wartenden auch schon aufgerufen und ich bin wieder alleine. Alleine. Wieder tauchen die Tränen in meinen Augen auf. Nein! Ich muss mich zusammenreißen! Denn dass es mir so schlecht geht, habe ich mir selber zuzuschreiben und auch verdient. Ich bin ein Monster! Sogar noch schlimmer als das! Ich werde nie wieder jemanden aus meinem Umfeld in die Augen schauen können - weder Elisabeth, noch Paul oder Anna, noch Frederik, noch sonst wem. Denn ihnen allen habe ich nicht einmal erzählt, dass ich schwanger bin. Auf Pauls Nachfrage vor zwei Wochen, ob sich meine Sorgen bestätigt haben, habe ich nur mit dem Kopf geschüttelt. Und damit war die Sache geklärt. Keiner von ihnen weiß, dass ich heute hier bin. Und damit Schaufel ich mir nahezu mein eigenes Grab. „Sie dürfen jetzt mitbekommen!" die nette Helferin steht plötzlich direkt neben mir und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich nicke, wische mir mit dem Handrücken über die Augen und folge ihr. Sie führt mich in eines der Behandlungszimmer und klärt mich kurz über alles auf. „Sie dürfen sich so weit schon mal ausziehen, die Ärztin kommt gleich" mit diesen Worten verabschiedet die Frau sich wieder und schließt die Tür hinter sich. Wie ferngesteuert mache ich, was mir gesagt wurde und nehme dann auf dem Untersuchungsstuhl Platz. Tatsächlich dauert es keine fünf Minuten, da geht die Tür erneut auf und eine etwas ältere Ärztin kommt rein. „Guten Tag! Ich grüße Sie" sie lächelt mich warm an und ich versuche etwas zurück zu lächeln. Ich habe einen riesigen Kloß im Hals und mein Blutdruck scheint irgendwo im Keller zu sein, während mein Puls viel zu hoch ist. Die Ärztin nimmt auf ihrem schwarzen kleinen Hocker Platz und rollt zu mir. Dann führt sie noch einmal ein ausgiebiges Gespräch mit mir. „Vielen Dank Frau..." ich schiele auf ihr Namensschild. „... Gretel" beende ich meinen Satz und schließe kurz meine Augen. „Dann fangen wir an?" fragt sie und ich nicke. Sie ruft eine Schwester zu sich und bereitet mir ihr zusammen die letzten Handgriffe vor. Dann bekomme ich eine kleine Narkosespritze verabreicht und ehe ich weiter über irgendetwas nachdenken kann, geht auch schon alles los.

Ich komme erst spät in der Nacht wieder nach Hause. Ich habe keine Ahnung wie viel Uhr es ist, denn egal wie viel Mühe ich mir auch gebe, ich bin zu betrunken, um meine Uhr entziffern zu können. Ich lehne mein Fahrrad gegen die Hauswand und Taumel leicht hicksend zur Haustür. Wahrscheinlich hat Frederik schon tausend mal versucht anzurufen, aber ich weiß es nicht. Mein Handy ist immer noch aus. Ich trete in den Flur und erkenne zu meinem Entsetzen, dass überall noch Licht brennt. „Emilia?!" Frederiks Ruf kommt aus dem Wohnzimmer. „Ich... bin jetzt... wieder... zuhause" Murmel ich nuschelnd und lehne mich gegen die geschlossene Haustüre. „Oh Gott, ich habe mir so Sorgen gemacht! Was ist mit deinem Handy?! Keiner meiner Anrufe ging durch... wo warst du?!" er nimmt besorgt mein Gesicht in seine Hände, hält dann aber inne. „Bist du betrunken?!" fragt er jetzt schockiert und ich nicke. Er lässt mich wieder los und tritt einen Schritt zurück. „Warum?" er verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich... glaube ich... ich habe... Mist gebaut... und zwar... ganz viel Mist... ich... habe... also..." lalle ich und sinke auf den Boden. „Was? Wie kommst du darauf, dass du Mist gebaut hast? Wo warst du?" Frederik kniet sich zu mir. Die
Sorge ist ihm ins Gesicht geschrieben. „Ich... habe... scheisse gebaut... und kann... es nicht... mehr rückgängig machen!" erkläre ich so gut ich es kann. Mein Kopf ist wie mit Watte gefüllt, mein ganzer Körper fühlt sich schwer an und ich fühle mich unbeschreiblich müde. Kein Wunder nach dem Tag! Frederik schaut mich geduldig an. „Du... du tötest mich" erkläre ich. „Ach, sag doch sowas nicht! Das würde ich niemals tun! Was denkst du denn von mir?" jetzt sieht er etwas enttäuscht aus. Glaube ich zumindest. Ich schließe meine Augen und döse weg, bis Frederik mich am Arm rüttelt. „Emilia... ich mache mir wirklich große Sorgen! So habe ich dich noch nie erlebt..." er greift zu meiner Tasche und plötzlich realisiere ich, was gleich passieren wird. Ich versuche ihm panisch meine Tasche abzunehmen, da hält er auch schon den weißen Arztbrief in der Hand und faltet ihn auseinander. „Nein! Ich... fuck!" flüstere ich und Kralle meine Nägel in meine Arme. Und dann kommt alles viel schlimmer, als ich es mir je erträumt hätte.

Herztöne (3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt