Kapitel 7

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„Hey... ich will euch ungern stören, aber die Frau aus dem Heim ist jetzt da" reißt die Stimme der Polizistin uns nach insgesamt zwei Stunden aus dem Spiel. Ich merke, wie ich erstarre und mir alle Gesichtszüge entgleisen. „Nein!" rutscht es mir raus und ich drücke den Stab feste an mich. „Tut mir leid, du musst leider zurück... du bist keine 18 und das Heim ist für dich verantwortlich" die Frau betrachtet mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich beiße mir auf die Lippe und lasse zu, wie Tränen meine Augen füllen. „Ach, das wird schon nicht so schlimm! Durchhalten, umso schneller geht die Zeit vorbei. Du kannst uns ja mal besuchen kommen" zwinkert Paul und streichelt mir kurz über den Rücken. Um nicht zu schluchzen, beiße ich mir weiterhin auf die Lippe, reiche Paul meinen Stab und gehe zum Schachtisch, um meinen Teddybär einzusammeln. „Na komm" die Polizisten streckt ihre Hand nach mir aus, nur um sie auf meinen Rücken zu legen, als ich an ihr vorbei gehe und bringt mich mitsamt Rucksack zum Tresen. Tatsächlich steht dort die Betreuerin, die ich in den ersten Tagen im Heim kennengelernt habe. Sie sieht unglaublich erleichtert aus. „Emilia! Ich bin so froh, dass du gefunden wurdest und es dir gut geht! Tut dir etwas weh?" fragt sie besorgt und begrüßt mich mit diesen Worten, aber ich schüttle den Kopf. „Hast du Hunger? Bist du müde? Komm, wir bringen dich schnell zurück! Warum hast du das denn getan?!" sie plappert fast noch mehr, als die Frau, die mich in meiner ersten Nacht zu dem Mann gebracht hat. Ich sage nichts, sondern laufe ihr nur voraus in Richtung Ausgang. „Tschüss Emilia!" es ist Paul, der mir winkend hinterher ruft. Ich winke mit einem schwachen Lächeln zurück und trete nach draußen in die warme Sommerluft. Verfolgt von der aufgewühlten Stimme machen wir uns zurück auf den Weg ins Heim, wobei mein Herz mit jedem Schritt den wir näher kommen, schwerer wird. „Schön, dass du wieder da bist. Am besten packst du in Ruhe aus... es gibt bald essen und danach wollte ich etwas mit dir besprechen" teilt meine Betreuerin mir mit. „Wie heissen Sie eigentlich?" ich schaue sie ausdruckslos an. „Äh... was?!" sie erwidert meinen Blick verdutzt. „Ich weiß nicht einmal wie Sie heißen" wiederhole ich meine Worte. „Oh... Sandra" sie schaut noch verwirrter. Sandra. So sieht sie auch tatsächlich aus. Ich nicke leicht, drehe mich um und gehe den bekannten Gang entlang in Richtung meines Zimmers.

„Fühlst du dich besser?" Sandra, ein Mann den ich nicht kenne und eine Frau, die ich ebenfalls nicht kenne, sitzen mir gegenüber. Ich bin frisch geduscht, trage saubere Klamotten und habe eine ganze Pizza innerhalb von zehn Minuten verschlungen und dementsprechend müde fühle ich mich auch. Wir sind im Aufenthaltsraum, aber ausnahmsweise ist niemand außer uns da. Sandra strahlt wie ein Honigkuchenpferd, während die anderen beiden Fremden, die nebeneinander sitzen, sanft lächeln. Er hat dunkle, glatte Haare und einen Dreitagebart, ist groß und muskulös, während sie rote lange Haare hat, die sich in den Spitzen leicht Wellen und eher etwas kleiner, aber genauso dünn und sportlich ist. Ich nicke nur und schaue unsicher zwischen Sandra und den beiden Erwachsenen hin und her. Sie sind nicht alt, vielleicht Mitte dreißig. Nur wenige Jahre älter als der Mann, den ich zu Beginn meiner Flucht getroffen habe. Was aus ihm wohl geworden ist in dieser einen Woche? Ob er den Schwestern im Krankenhaus alles erzählt hat? Und ob die Nachbarin noch mal da war? Ich muss mir ein Grinsen bei der Vorstellung verkneifen, wie sie plötzlich mit ihren Kindern vor der Türe steht und mich besuchen will und der Mann verkündet, dass ich auf Klassenfahrt oder sonst wo sei. Naja, vielleicht hat er ihr auch einfach die Wahrheit gesagt. So oder so wird er sich wohl noch ein paar Gedanken über mich gemacht haben müssen. Mit Paul hätte ich gerne noch mal Billard gespielt. Oder dieses Mal wirklich Schach. Er war wirklich nett. Wie ein großer Bruder, der in seinen Semesterferien nach Hause gekommen und sich zwei Stunden Zeit genommen hat, bevor er sich mit seinen Kumpels zum feiern gehen verabredet hat und ich englisch mit Mama oder Papa lernen muss. Mama oder Papa. Ob sie mich gerade sehen können? Ob sie mich bei meinem ‚Ausflug' gesehen haben? Haben sie mir vielleicht sogar geholfen, ohne dass ich es gemerkt habe? „Naja, auf jeden Fall wollten sie dich bei sich aufnehmen... als Pflegefamilie" Sandras Worte reißen mich mit einem Mal wieder zurück in dir Realität. WAS?! Hat sie gerade etwas vom Pflegefamilie gesagt? „Wie bitte?" ich blinzle verwirrt und schaue wieder zwischen ihr und den anderen beiden hin und her. „Ja. Elisabeth und Jakob würden dich gerne bei sich aufnehmen. Dir ein zuhause schenken. Einen geregelten Tagesablauf. Dich auf dem Weg ins Erwachsenenalter begleiten. Sie wollen dich bei sich aufnehmen" wiederholt Sandra den letzten Satz ihrer Wiederholung. Ich starre sie an, während das Blut laut in meinen Ohren rauscht. Pflegefamilie. Raus aus dem Heim. Rein in ein eigenes Kinderzimmer - wenn auch zu fremden Leuten. Ich schaue zu Elisabeth und Jakob. Jetzt, wo ich ihre Gesichter mit Namen sehe, fallen sie mir viel mehr auf. „Wir können leider selber keine Kinder bekommen, haben aber - so wie die halbe Welt - von deiner ‚Flucht' hier raus gehört. Wir möchten nicht, dass du so etwas noch einmal durchleben musst... und wir wollten sowieso schon immer ein Kind bei uns aufnehmen" Elisabeths Stimme ist sehr warm und freundlich. Ich merke, wie mir Tränen in die Augen kommen. Sie wollen also meine Eltern ersetzen? „Ich weiß, dass wir deine Eltern nicht ersetzen können... aber vielleicht können wir dein Leben bunter gestalten, als es hier möglich ist" fährt jetzt Jakob fort, als könnte er meine Gedanken lesen. Auch er klingt sehr nett. „Ähm... ich..." krätchze ich nur und sinke ganz klein in die Kissen hinter mir zusammen. „Du musst nicht sofort eine Antwort geben. Sie wollten sich nur mal bei dir vorstellen und dir dann diese Option bieten. Schlafe eine Nacht drüber und befasse dich morgen in Ruhe noch mal damit... für heute hast du glaube ich genug erlebt... schlafe dich erst mal richtig aus" Sandra gluckst belustigt und steht vom Sofa auf. „Wir melden uns dann morgen noch mal" verkündet Jakob und steht zusammen mit seiner Frau ebenfalls auf. Ich starre nur weiter vor mich hin, während sich die drei verabschieden und aus dem Raum verschwinden. Pflegefamilie also.

Herztöne (3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt