Die nächsten beiden Stunden erlebe ich wie in Trance: nur etwa zwanzig Minuten später treffen zwei Rettungswagen und ein Streifenwagen ein. Jakob wird fest - und mitgenommen und auch Elisabeth und ich werden in jeweils einen der Rettungswagen gebracht. Da Paul nicht im Streifenwagen mitfahren darf, beschließt er bei Elisabeth zu bleiben, weil Frederik sie nicht kennt und letzterer begleitet mich. Mein Kopf tut unbeschreiblich weh und ich habe immer noch das Gefühl, mein Umfeld nicht ganz richtig mitzubekommen, aber ich bin Paul keinesfalls böse deshalb. Nein, ich bin böse auf mich. Böse im Sinne von wütend. Richtig wütend. Am liebsten würde ich alles rückgängig machen. Ich wollte Paul nicht seinen besten Freund nehmen. Und Elisabeth nicht ihren Ehemann. Und mir nicht den Traum nach einer Familie. Aber all das ist innerhalb weniger Sekunden wie eine Seifenblase einfach zerplatzt. Ich lasse meine Augen während der gesamten Fahrt geschlossen, weil ich Frederik nicht anschauen möchte. Ich weiß nicht wie er schaut, aber insgesamt wäre ich gerade gerne am liebsten alleine. Es dauert nicht lange, bis wir die Klinik erreichen. Auf der Trage werde ich nach drinnen gebracht. Elisabeth kann ich weit und breit nicht sehen. Nur Frederik, der neben mir her läuft. Er gibt der Diensthabenden Ärztin im Behandlungsraum eine kurze Übergabe, verschwindet dann aber ohne ein weiteres Wort. Somit bleibe ich alleine zurück.
Ich werde für die nächsten 24h Stunden zur Überwachung einer möglichen Gehirnerschütterung auf Station verlegt und ich muss gestehen, dass ich froh bin, ein Einzelzimmer erwischt zu haben. Als ich zum ersten Mal wieder eine Uhr entdecke, schrecke ich kurz hoch. Dass so viel Zeit vergangen ist, war mir nicht bewusst. 16 Uhr. Ich rolle mich in meinem Bett auf die Seite und so klein es geht zusammen. Aus dem Fenster kann ich direkt unten auf den Parkplatz schauen. Es scheinen viele Menschen unterwegs zu sein, denn der Parkplatz ist gerappelt voll. Ich beiße mir auf die Lippe, weil ich merke, wie ich schon wieder weinen muss. Und weil mich wieder alle Schuldgefühle überkommen. Ich schließe meine Augen und atme immer wieder kontrolliert ein und wieder aus, um das schluchzen zu unterdrücken. Plötzlich geht die Tür hinter mir auf. Ich drehe mich panisch um und sehe, dass es Paul ist. Ich kann seinen Gesichtsausdruck überhaupt nicht deuten. Es ist eine Mischung aus Wut, Angst, Besorgnis, zweifeln und Scham. „Hey!" flüstert er fast und schließt die Tür hinter sich. Schnell wische ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel weg und setze mich auf. „Mir tut das unbeschreiblich leid! Hast du große Schmerzen?" fragt er und als Antwort schüttle ich den Kopf, auch wenn es nicht die Wahrheit ist. „Warum bist du denn auch dazwischen gegangen?!" schnaubt er jetzt. „Ich wollte nicht, dass du ihm so weh tust... je mehr du ihn verletzt hättest, desto mehr Ärger hättest du im Nachhinein gehabt" erkläre ich mit angezogenen Beinen. Meine Arme schlinge ich um sie und wippe leicht vor und zurück. „Warum hast du nie etwas gesagt? Warum?" fragt er weiter mit zitternder Stimme und Tränen in den Augen. Er kommt auf mich zu und setzt sich vor mich auf die Bettkante. „Warum hast du das so lange für dich behalten?" er streicht mir eine Strähne hinters Ohr und ich kann sehen, wie er kämpfen muss, um nicht zu weinen. „Ich wollte ja... aber..." ich zucke mit den Schultern. „Ich weiß, dass du das wolltest. Du hast mir so viele Zeichen gegeben... immer wenn du da warst, wolltest du reden... du hast gesagt, jemand würde dir weh tun... und dass ich Elisabeth nicht anrufen soll... und... und ich habe alle Zeichen übersehen.... Das tut mir so schrecklich leid! Das werde ich mir niemals verzeihen können!" er streckt seine Hände nach mir aus und zieht mich zu sich und gegen sich. „Nein! Bitte nicht! Du hast keine Schuld... ich hätte dir einfach sagen müssen, was los ist" flüstere ich gegen seine Brust und schließe meine Augen. Er schluckt schwer und stützt sein Kinn auf meinen Kopf ab. Meine Arme lege ich fest um ihn. „Es tut mir so leid, dass du das ertragen musstest!" er schüttelt leicht den Kopf. Ich antworte nichts. „Wenn du willst, kannst du auch erst mal zu mir kommen... du bist ja zum Glück volljährig und musst deshalb nicht zurück in ein Heim oder so" er lässt mich los und lächelt schwach. „Nein... Anna braucht dich ja jetzt... beziehungsweise sie und euer Kind. Ich komme auch woanders unter. Alles gut!" beteuere ich und lasse mich zurück in die Kissen sinken. „Ach ja? Und wo?" er runzelt verwirrt die Stirn. Im selben Moment geht die Tür ein weiteres Mal auf. Dieses Mal ist es Frederik, der seinen Kopf ins Zimmer steckt. Paul und ich schauen erst zu ihm, dann schauen wir uns an, dann wieder zu ihm und zuletzt wieder uns gegenseitig. „Vielleicht ja dort" sage ich leise, auch wenn ich die Vorstellung äußerst merkwürdig finde. „Bist du dir sicher?" fragt Paul besorgt, während Frederik fragend zwischen uns hin und her schaue. „Was anderes bleibt mir ja fast nicht übrig..." ich schließe erschöpft meine Augen, während Paul wieder zu Frederik schaut. „Störe ich?" fragt dieser, aber wir schütteln beide den Kopf. „Nein. Du kommst gerade rechtzeitig" Paul steht vom Bett auf und geht nachdenklich zum Fenster. „Ach?" Frederik kommt rein und schließt die Tür hinter sich. „Wie geht es dir?" fragt er, bevor wir überhaupt etwas sagen können und kommt ebenfalls auf mich zu. "Gut" Lüge ich, merke aber direkt, wie lächerlich das ist. Frederik zieht gekonnt eine Augenbraue hoch, belässt es jedoch dabei. „Frederik, mein Freund..." Paul lächelt leicht, als er mit diesen Worten auf ihn zugeht. „Ich habe da ein Anliegen..." erklärt er, zwinkert mir kurz zu, legt seinen Arm über Frederiks Schulter und führt ihn hinaus. Ich schüttle ungläubig den Kopf, als ich wieder alleine bin und fange an, die Punkte auf meiner Bettdecke zu zählen. Ob ich wirklich zu Frederik will, weiß ich nicht. Aber was soll ich sonst machen? Mir bleibt wirklich kaum was anderes übrig. In das Haus von Elisabeth und Jakob will ich erst mal nicht zurück - auch wenn Elisabeth dort alleine leben wird. Also muss ich wohl in den sauren Apfel beißen - wenn er denn überhaupt Ja sagt.
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Herztöne (3)
FanfictionGeschrieben: 2021 ••• Emilia ist gerade einmal 13 Jahre alt, da geben ihre Eltern sie aus unbekannten Gründen von heute auf morgen in ein Heim und zur Adoption frei. Der Schock sitzt tief, aber auch sie muss lernen, dass das Leben einfach weiter geh...