Kapitel 72

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„Emilia? Es ist soweit, du kannst vorbei kommen!" strahlt Paul förmlich durchs Telefon, als er am nächsten morgen in aller Frühe anruft. „Was? Wie viel Uhr ist es denn?" Murmel ich schlaftrunken und klipse mein Nachtlicht an. „Halb fünf. Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass Jonas jetzt da ist. Anna geht es soweit auch gut" fährt er fort. „Oh wow! Ja... wir kommen gleich... weißt Elisabeth schon Bescheid?" gähne ich, während auch Frederik sich jetzt neben mir bewegt. „Ich habe ihr geschrieben... du, ich muss jetzt wieder auflegen... bis später!" er legt auf und ich blinzle verwundert auf mein Handy. „Alles gut?" nuschelt Frederik mit geschlossenen Augen, da ihm das Licht scheinbar zu hell ist und ich nicke. „Der kleine Jonas ist da" teile ich ihm mit. „Und du willst wahrscheinlich direkt hin?" seufzt Frederik und ich merke, wie ich etwas rot werde. „Ich würde mich freuen!" gebe ich verlegen zu. „Na dann komm. Du schläfst ja sonst eh nicht mehr" seufzt er und schlägt die Decke zur Seite. „Danke! Du bist der Beste!" kichere ich und stehe auf, um mich kurz unter die Dusche zu stellen. Als ich runter komme, hat Frederik sich bereits einen Kaffee zum wach werden gemacht. „Jonas also" stellt er fest und schaut mich fragend an. „Vielleicht ja mit Zweitname Frederik" kichere ich und setze mich neben ihn. Er mault irgendwas vor sich hin und legt seinen Kopf auf meine Schulter. Ich küsse ihn seitlich auf die Haare und kraule dann seinen Nacken. „Hmmmm" seufzt er genießend und lässt sich komplett gegen mich sinken. „Hey, nicht! Ich kann dich so nicht halten!" lache ich und drücke ihn wieder aufrecht hin. „Komm, Frühstück gibts vor Ort. Lass uns los, sonst schlafe ich wieder ein" Frederik steht auf, trinkt seine Tasse in einem Zug leer, bringt sie auf dem Weg in die Küche und verschwindet dann in den Flur. „Wie haben gar kein Geschenk oder irgendwas!" stelle ich erschrocken fest. „Das besorgen wir heute Mittag und bringen es dann beim nächsten mal mit" entgegnet Frederik nur während er sich anzieht. Ich nicke und mache es ihm nach.
Eine halbe Stunde später kommen wir im Krankenhaus an. Schon wieder hier zu sein fühlt sich irgendwie komisch an, aber ich versuche mir bewusst zu machen, dass ich nur als Besucher da bin. Während Frederik durch die Flure stürmt als sei es sein Zuhause - wahrscheinlich ist es das innerlich auch - versuche ich mit meinem nach wie vor geschwächten Bein und meiner kaputten Herz-Rippen-Region Schritt zu halten. „Puh, ich kann nicht mehr!" schnaufe ich, als wir auf der gynäkologischen Station ankommen und lasse mich auf einen herumstehenden Stuhl fallen. Erst jetzt scheint Frederik sein Tempo zu bemerken. „Mensch, sag doch was... tut mir leid!" grummelt er leicht zerknirscht und kniet sich zu mir runter. „Alles gut. Brauche nur kurz Luft!" lächle ich schwach und halte mir die Hände auf die Narbe am Brustkorb. Er streichelt mir über den Rücken und hält nach einer Schwester Ausschau, um nach Paul und Anna fragen zu können. „Letztes Zimmer auf der rechten Seite" klärt uns irgendwann eine Schwester auf, die gerade mit einem Brutkasten vorbei rollt. „Na dann mal los" Frederik hilft mir vom Stuhl hoch und lässt mich dieses Mal voraus gehen. Vorsichtig klopfen wir an der Tür. Es dauert keine fünf Sekunden, da reißt jemand von innen die Tür auf und Paul fällt uns in die Arme. „Oh, ich freue mich so euch zu sehen! Kommt bitte rein!" er springt aufgeregt von einem Bein aufs andere. Sowohl Frederik, als auch ich müssen uns ein Grinsen verkneifen, als wir uns kurz einen gegenseitigen Blick zuwerfen. „Hey! Wie gehts dir? Herzlichen Glückwunsch!" begrüße ich Anna erfreut, die putzmunter in ihrem Bett sitzt und umarme sie. „Hey! Schön euch zu sehen! Alles gut soweit. Etwas kaputt, aber lief besser als befürchtet" lächelt sie und lässt sich auch von Frederik umarmen. „Schaut her!" strahlt Paul von dem Babybett aus und kaum sind wir neben ihn getreten, habe ich plötzlich den kleinen Jonas im Arm. „Stop! Ich weiß doch gar nicht, wie man sowas macht!" rufe ich panisch und starre auf das Bündel Leben auf meiner Brusthöhe. Anna und Frederik lachen, während Paul beruhigend auf mich einredet. Jonas hingegen scheint das ganz gar nicht groß zu interessieren - er schläft friedlich weiter. „Aber er ist so süß!" gebe ich dann doch mit feuchten Augen zu und streichle ihm über sein Köpfchen. „DU bist aber noch zu jung!" Paul schaut mahnend zwischen Frederik und mir hin und her. „Ich hatte auch aktuell nicht vor eines zu bekommen. Schule und Studium sind wichtiger" antworte ich etwas genervt. Gleichzeitig merke ich, wie mir mein Herz in die Hose rutscht und ich plötzlich mit aller kraft gegen eine Flut an Tränen ankämpfen muss. „Gute Einstellung!" Frederik nimmt mir Jonas ab und widmet ihm seine volle Aufmerksamkeit. „Zugegeben: irgendwie steht ihm ein Kind" seufzt Paul und setzt sich neben Anna aufs Bett. Ich setze mich auf den Stuhl davor und unterhalte mich mit beiden, bis Frederik mir Jonas zurück gibt und verkündet, Frühstück zu holen. „Paul? Ich glaube, ich habe ein Problem..." hauche ich jetzt panisch in seine Richtung und wippe nervös hin und her. „Was ist?" er nimmt mir Jonas Stirnrunzelnd ab und gibt ihn an Anna weiter. „Ich bin zu jung für ein Kind!" wiederhole ich seinen Satz mit zittriger Stimme. „Jaaaa?!" Paul steht ein riesiges Fragezeichen ins Gesicht geschrieben. „Scheisse... wir haben gar nicht verhütet gehabt!" platzt es jetzt ängstlich aus mir raus und ich merke, wie ich blass werde. Und auch Paul wird kreidebleich. „Und das fällt dir erst jetzt auf?!" „naja, durch die Entführung und das Krankenhaus und die Aufregung wegen der Geburt hier und... ich habe... es verdrängt" flüstere ich mit erstickter Stimme und merke, wie mir eine Träne über die Wange läuft. „Oh. Mein. Gott!" Paul steht auf und rauft sich die Haare. Frederik kommt jede Sekunde zurück. Und er darf auf keinen Fall etwas davon mitbekommen! Lediglich Anna scheint einen kühlen Kopf zu bewahren. „Aber jetzt warte doch erst mal ab! Vielleicht ist ja auch gar nichts passiert! Ihr müsst ja auch den richtigen Zeitpunkt erwischt haben. Mache dich nicht vorzeitig schon fertig!" sie lächelt mich aufmunternd an und ich versuche tief ein und wieder auszuatmen. „Hier, das beruhigt!" sie hält mir Jonas wieder hin und ich nehme ihn mit klopfendem Herz. In der Tat sorgt seine unschuldige, ruhige Art dafür, dass ich meine Tränen wieder wegblinzle und auch als Frederik zurück kommt, schaffe ich es, mir nichts anmerken zu lassen.

Herztöne (3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt