Kapitel 27

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Zuhause verabschiede ich mich kurzerhand von meinen ‚Eltern' und springe so schnell es geht die Treppe nach oben in mein Zimmer. Zusammengekauert hinter meiner verschlossenen Zimmertür lausche ich jedem noch so kleinen Geräusch, dass sich draußen auf dem Flur abspielt. Ich höre ein paar mal die Badezimmertür und die des Schlafzimmers von Paul und Elisabeth, aber insgesamt wird es von Minute zu Minute ruhiger. Irgendwann klopf es an meiner Zimmertür. Ich halte sofort die Luft an und versuche nicht ein Geräusch zu machen. Wenn mich einer der beiden hier sitzen sieht, werden sie mich für völlig verrückt erklären. Als es ein zweites Mal klopft, stehe ich möglichst leise auf, lege mich aufs Bett, mache das Licht aus und warte, was als nächstes passiert. Gerade noch rechtzeitig komme ich zur Ruhe, als sich die Tür öffnet. Ich weiß nicht, ob es Jakob oder Elisabeth ist, aber es scheint nur jemand den Kopf rein zu stecken und nach mir zu schauen, denn ich nehme keine weiteren Bewegungen wahr. Dann schließt die Tür sich wieder. Ich stoße laut die Luft aus und greife im Dunkeln nach meinem Handy, als mich plötzlich jemand am Handgelenk packt. Ich gebe einen kurzen, spitzen Schrei von mir, aber nur solange bis mir jetzt auch jemand den Mund zuhält. „Sssshhhh! Warum tust du so als würdest du schlafen? Warum legst du mich rein?" es ist Jakob. „Ich wollte lediglich mit dir über den Abend reden... wegen dem, was du vorhin zu mir gesagt hast" erklärt er mir im dunklen. Ich kann ihn nicht sehen, aber ich spüre, dass er auf meiner Bettkante sitzt. „Morgen? Ich bin müde!" entgegne ich gegen seine Hand. „Müde? Du saßt doch bis eben noch vor der Tür und hast gelauscht" dass er das weiß, lässt meine Angst nicht unbedingt kleiner werden. „Ich habe mir nur Sorgen gemacht... ich wollte nur nicht, dass deine Therapie umsonst war" erkläre ich und schaffe es jetzt, seine Hand von meinem Mund zu lösen. „Sorgen? So ging es mir damals auch" seufzt Jakob. „Damals?" frage ich verwirrt und setze mich auf. „Als deine Eltern gestorben sind und du so alleine und zerbrochen hier lagst" seine Stimme klingt fast schon... verträumt. Ich merke, wie mir schlecht wird. Ich kann nicht sagen, ob mir in diesem Moment heiß oder kalt oder beides zugleich ist, aber ich fühle mich absolut nicht wohl. „Es ist wirklich spät... wir sollten schlafen... du musst doch morgen wieder arbeiten! Wir können ja morgen Mittag reden... oder übermorgen..." schlage ich vor und versuche dabei möglichst selbstsicher zu klingen. „Hast du jemals jemandem von unserem... Geheimnis... erzählt?" fragt er jetzt und durch die Dunkelheit hindurch spüre ich seinen bohrenden Blick. „Nein" antworte ich wahrheitsgemäß. Er reibt sich kurz die Augen, dann legt er sich auf den Rücken neben mich. „Weißt du noch? Es war genau hier..." erinnert er sich. Warum fängt er an, das alles noch mal zu erzählen? Ich will das nicht! Natürlich erinnere ich mich! Es hat mein Leben ein Stück weit zerstört! „Ich weiß. Ich werde es niemals vergessen. Aber es gefällt mir nicht, dass du hier liegt und darüber redest, als wären es Aktien" gestehe ich mit zittriger Stimme. „Ich möchte darüber nicht reden" setze ich hinterher. „Du lagst hier und hast geschlafen... und ich habe Paul abgelöst. Du sahst so... klein aus... und zerbrechlich..." „meine Eltern wurden an dem Tag für tot erklärt. So würde es wohl jedem gehen" unterbreche ich ihn. „Deine Haut war gerötet vom vielen weinen... deine Wimpern waren ganz nass... deine Lippen noch mehr durchblutet als normal... du sahst so fürchterlich und gleichzeitig so wunderschön aus!" „Jakob... bitte!" flehe ich und versuche ihn in einen aufrechten Sitz zu drücken, aber er bleibt wie ein nasser Sack liegen. „ich würde alles dafür tun, wenn ich noch einmal mit dir schlafen dürfte" seufzt er und ich erstarre sofort. Was hat er gerade gesagt?! Mein Herz springt gefühlt jede Sekunde aus meiner Brust und die Übelkeit wird noch größer. „Was?" krächze ich und rutsche ein Stück weg von ihm. „Aber ich darf ja nicht" murmelt er und fährt sich mit der Hand übers Gesicht. „Bitte gehe jetzt!" flüstere ich und stehe vom Bett auf. Auch er steht auf, kommt aber im dunklen auf mich zu. „Und dann... manchmal frage ich mich... muss man manche Menschen nicht einfach zu ihrem Glück zwingen...? Einfach... egoistisch sein? Ich meine... was haben wir denn schon alle zu verlieren?... wir sind alle nicht ewig, Emilia. Irgendwann sterben wir. Und dann? ..." er drückt mich mit einem Mal fest gegen die Wand. „Was? Nein... ich... stop! Was soll das?.... Du hast... du hast doch die Therapie gemacht!.... Bitte mache das nicht kaputt!... ich habe dir wieder vertraut! Es war alles gut... ich... bitte! Du bist doch... mein Ersatzvater!" schluchze ich jetzt ungewollt und unkontrollierbar. „Aber das werde ich ja auch so immer sein" entgegnet er und lehnt seine Stirn neben meinem Kopf gegen die Wand. Ich kann seinen Geruch jetzt ganz klar und deutlich wahrnehmen. Sein Körper lehnt gegen meinem und somit spüre ich auch seine Wärme. „Bitte Jakob! Geh ins Bett!" ich zittere am ganzen Körper und Tränen laufen mir übers Gesicht. Zu sehr Angst habe ich, dass sich genau dieselbe Szene von damals wiederholt. Nicht dass ich heute mehr Mut hätte, jemandem davon zu erzählen, aber vielleicht ist auch gerade das das Problem. Ich öffne meinen Mund, um weiter auf ihn einzureden, da nimmt er mich hoch und wirft mich aufs Bett. Ich bin so perplex, dass ich einfach nur liegen bleibe, bis er plötzlich über mir ist. „Nein nein nein nein nein!" ich versuche unter ihm raus zu krabbeln und vom Bett zur Tür zu fliehen, aber er ist schneller als ich. „Tue mir das nicht an! Du hast es versprochen! Ich habe dich doch so gerne!" weine ich und versuche mich so klein es geht zusammenzurollen. „Habe keine Angst. Ich tue dir nicht weh. Ich werde ganz vorsichtig sein!" erst jetzt fällt mir wieder auf, wie verwaschen und lallend seine Stimme ist. „Du bist nicht bei dir! Du hast viel zu viel getrunken! Im schlimmsten Fall weißt du morgen gar nicht mehr, was du getan hast!" mit diesen Worten versuche ich ihn ein letztes Mal von jeglichen Dummheiten abzuhalten. Aber es soll nicht so sein. Nur wenige Sekunden später wiederholt sich genau die selbe Szene wie die aus der Silvesternacht. Und als er fertig ist, steht er einfach auf und geht.

Herztöne (3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt