In dieser Nacht mache ich gefühlt nicht eine Minute die Augen zu. Immer wieder starre ich auf mein Handy, nehme es dann in die Hand, nur um hoffnungsvoll den Chat mit Frederik zu öffnen und dann mit Tränen in den Augen festzustellen, dass er mich ‚immer noch' blockiert hat. Und dementsprechend fühle ich mich auch am nächsten morgen: kaputt, müde ausgelaugt. Auf die ganzen ‚Termine', die Elisabeth mit mir vor hat, habe ich somit auch mehr als keine Lust. Kann sie mich nicht einfach an meinem Herzschmerz sterben lassen? Dann würden sich alle Probleme mit einem Mal auflösen. Ganz ohne Anstrengungen - Bilde ich mir zumindest ein. Das Frühstück verläuft sehr ruhig, auch wenn Elisabeth immer wieder versucht, ein Gespräch mit mir aufzubauen. Nachdem wir anschließend bei ihr im Yoga Studio waren, machen wir uns auf den Weg zu einer Fahrschule, wo wir mich zu meinem Leidwesen direkt anmelden, gehen dann einkaufen, fahren wieder nach Hause um alles zu verräumen und meine ganzen Studiumsunterlagen zusammenzusuchen und zu beantragen (das ganze dauert geschlagene zweieinhalb Stunden und ich bin im Nachhinein mehr als nur schlecht gelaunt) und über Mittag versuche ich es mit ein wenig schlafen, während Elisabeth uns etwas zu essen vorbereitet.
„Na, wie fühlst du dich?" lächelt sie mich warm an, als ich gegen 15 Uhr wieder aus meinem Zimmer komme. „Beschissen" Murmel ich und schnappe mir ein Glas Wasser. „Ich hoffe du weißt, dass ich dir nur zu gerne alles an Schmerzen, Problemen und Sorgen abnehmen würde, wenn ich es könnte" sie lehnt sich mit den Rücken gegen die Theke und betrachtet mich. Ich nicke dankbar und trinke mein Glas leer. „Möchtest du eine Umarmung haben?" fragt sie vorsichtig und als ich wieder nicke, tritt sie vor mich und legt ihre Arme fest um mich. „Ich werde übrigens nie wieder Alkohol trinken!" Murmel ich mit einem dicken Kloß im Hals und ich spüre, wie sie grinsen muss. „Dann hatte der Abend ja irgendwie doch etwas gutes... wobei ab und zu ein Glas Wein oder Sekt nicht verkehrt ist" sie lässt mich wieder los und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Dann dreht sie sich zurück zur Theke und reicht mir einen Teller mit zwei dick belegten Sandwiches darauf. „Du bist die beste!" freue ich mich ehrlich, denn nach meinem spärlichen Abendessen gestern und dem wenigen Frühstück am Morgen habe ich das Gefühl, bald zu verhungern. Sie setzt sich mit einem eigenen Teller mit mir aufs Sofa und zusammen schauen wir einen Film. „So. Jetzt müssen wir nur noch bei Paul vorbei. Dann haben wir alles für heute geschafft" erinnert sie mich, als der Film fertig ist und ich stöhne auf. Der Gedanke an Paul tut ebenfalls weh - nicht so sehr wie der an Frederik, aber natürlich habe ich auch ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen. „Er wird dir nicht böse sein, das weißt du. Rede einfach ganz in Ruhe mit ihm!" versucht Elisabeth mich aufzumuntern und drückt meine Hand. Wie kann man nur immer so optimistisch und positiv sein wie sie? Das einzige Mal dass es nicht so war, war während der gesamten Geschichte mit Jakob. Aber in all den anderen sechs Jahren habe ich sie sonst nie negativ erlebt. „Bald ist mein Geburtstag" stelle ich aus dem nichts fest. „Stimmt. Drei Wochen" Elisabeth lächelt schwach und ich merke erneut Trauer in mir aufsteigen. Mein 19. Geburtstag. Ohne Sommerurlaub und ohne Frederik. Dafür mit einem sehr guten Abitur in der Tasche, hoffentlich Paul an meiner Seite, Elisabeth und einem halben Führerschein. Aber das gleicht es nicht komplett aus. Ich bin dankbar, beide und meinem Leben zu haben, vollständig ist es dadurch aber trotzdem nicht. „Komm, lass uns los!" sagt Elisabeth Schnell. Scheinbar bemerkt sie, dass ich kurz vor dem nächsten Heulanfall bin. Ich nicke, blinzle ein paar mal, schniefe kurz und folge ihr dann in den Flur, um mich fertig zu machen. Es dauert keine zwanzig Minuten, bis wir vor Pauls Haustür ankommen.
„Emilia? Elisabeth? Was macht ihr denn hier?!" Paul entgleisen alle Gesichtszüge, als er uns aufmacht und starrt zwischen uns hin und her. Während ich beschämt mit verschränkten Armen auf den Boden starre, begrüßt Elisabeth ihn fröhlich mit einer Umarmung. „Ihr müsst mal reden..." flüstert sie ihm ins Ohr und verschwindet dann ins Wohnzimmer. Ich kann hören, wie sie auch Anna fröhlich begrüßt. „Hey... was war los mit dir? Warum hast du dich nicht gemeldet und mich immer abgewimmelt?!" etwas sauer klingt er schon wie ich zugeben muss. Ich zucke mit den Schultern, während Tränen direkt auf meine Schuhe tropfen. „Komm rein" bittet er mich und tritt zur Seite. Möglichst klein gemacht gehe ich an ihm vorbei und streife mir die Schuhe von den Füßen. „Möchtest du reden?" fragt er weiter und ich nicke, auch wenn mir gar nicht danach ist. Aber bleibt mir denn etwas anderes übrig, wenn ich noch irgendetwas retten will? Schlimmer kann es eh nicht mehr werden... „Sollen wir nach oben in mein Büro gehen?" fragt er weiter und wieder nicke ich, da ich keine Lust habe, Anna und Elisabeth als Zuhörer zu haben. Er geht mir voraus die Treppe nach oben und ich folge ihm missmutig. Im Zimmer angekommen setzen wir uns nebeneinander auf das kleine Sofa in der Ecke und während ich meine Knie anziehe und meine Arme um sie lege, mustert Paul mich von der Seite. Ihm die ganze Geschichte zu beichten fällt mir deutlich schwerer, als es mir bei Elisabeth gefallen ist. „Ich bin ganz Ohr!" verkündet Paul irgendwann und ich weiß, dass wenn ich jetzt meinen Mund nicht aufmache, meine Probleme nur immer größer werden. Somit hole ich tief Luft und erzähle unter vielen, vielen Tränen, was geschehen ist.
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Herztöne (3)
FanfictionGeschrieben: 2021 ••• Emilia ist gerade einmal 13 Jahre alt, da geben ihre Eltern sie aus unbekannten Gründen von heute auf morgen in ein Heim und zur Adoption frei. Der Schock sitzt tief, aber auch sie muss lernen, dass das Leben einfach weiter geh...