In der selben Nacht mache ich kein Auge zu. Ich kann und will nicht glauben, was vor wenigen Stunden geschehen ist. Eigentlich hätte ich ja allen Grund, mich einfach nur zu freuen, weil es doch noch einen Weg gibt aus diesem Heim hier raus zu kommen und dieser auch noch zum Greifen nah ist, aber irgendwie macht mir das alles auch Angst. Hier im Heim fühle ich mich zwar so unwohl wie sonst nirgendwo, aber zumindest versucht niemand, mir eine heile Welt vorzuspielen. In einer neuen Familie mit neuen „Eltern" wäre das mit Sicherheit ganz anders. Es würde Kuchen zum Geburtstag geben, Geschenke zu Weihnachten, im Sommer Tagesausflüge um die Verbindung zu stärken und im Winter ein riesiges Weihnachtsessen mit dem Rest der Familie dieser Eltern. Und das würde wahrscheinlich unweigerlich dazu führen, dass ich noch mehr an meine Eltern erinnert werden würde. Ich schließe meine Augen und versuche meine Gedanken für einen Moment abzuschalten. Meine Konzentration liegt auf dem lauten Sekundenzeiger der Uhr in meinem Zimmer. Tick. Tack. Tick. Tack. Draußen auf den Fluren ist es mucksmäuschenstill - kein Wunder, es ist auch schon ziemlich spät. Ich öffne meine Augen wieder und greife nach meinem Handy. In zwei Wochen soll die Schule wieder für mich losgehen. Jetzt liegt es an mir, ob ich von hier aus jeden Morgen meinen Schultag antreten möchte, oder aus einem normalen Haus. Die Uhr auf meinem Display zeigt mir an, dass es 3 Uhr in der Nacht ist. Viel zu spät, um morgen fit zu sein, denn auch wenn Wochenende ist, gibt es wie immer Frühstück um 08.30 Uhr. In wenigen Stunden werde ich also die beiden Menschen, die mich bei sich aufnehmen wollen, wieder sehen. Ich spüre, wie mir etwas schlecht wird. Ich entsperre mein Handy und versuche mich auf Instagram durch irgendwelche Bilder und Videos abzulenken. Erst zwei Stunden vor dem Frühstück schaffe ich es dann endlich, einzuschlafen.
„Hey, Emilia! Herr und Frau Schulz kommen bald und du hast noch nichts gegessen!" jemand rüttelt mich vorsichtig an den Schultern. Ich grummel etwas vor mich hin und blinzle verwirrt gegen das helle Licht im Raum. Es ist eine Betreuerin, die ich bisher noch nicht zuvor gesehen habe. „Willst du noch frühstücken?" fragt sie weiter, aber ich schüttle Schlaftrunken mit dem Kopf. „Okay... du solltest trotzdem langsam aufstehen und dich fertig machen" fährt sie fort und ich nicke leicht. Ich höre, wie sie sich wieder umdreht und verschwindet. Der Nachname ist also Schulz. Elisabeth und Jakob Schulz. Typisch deutsch. Aber ob mein Name wirklich besser ist, wage ich stark zu bezweifeln. Ich schließe meine Augen noch mal kurz und versuche mich daran zu erinnern, ob ich etwas geträumt habe, jedoch will mir nichts einfallen. Erst als die Tür erneut aufgeht, setze ich mich seufzend auf und schwinge die Beine aus dem Bett. Die Betreuerin von eben schaut mich mahnend an, verschwindet aber wieder, als ich mir frische Klamotten schnappe und in Richtung Baderäume verschwinde. Tatsächlich sind Herr und Frau Schulz keine halbe Stunde nach dem aufstehen da und ich werde von der Betreuerin, die sonst für mich da ist und die ich bereits kenne, zu ihnen gebracht.
„Ihr könnt euch ja einfach ein wenig unterhalten... Emilia hat bestimmt eine Menge Fragen. Vielleicht habt ihr ja Lust auf einen Spaziergang oder so" schlägt meine Betreuerin vor und legt eine Hand auf meinen Rücken. Anstatt zu antworten, schaue ich die beiden einfach nur gebannt an. „Ein Spaziergang klingt doch gut... es ist herrlich warm draußen, wir könnten das gute Wetter auf alle Fälle nutzen!" lächelt Elisabeth und schaut ihren Mann fragen an. Auch er nickt begeistert und somit bereite ich mich innerlich darauf vor. Nach einem kurzen Nummernaustausch zwischen Jakob und meiner Betreuerin verlassen wir das Heim und laufen in Richtung Rheinufer. Hier war ich tatsächlich - wie es das Schicksal eben so will - bisher nur mit meinen Eltern. Meistens so wie jetzt im Sommer. Wir haben gemeinsam Eis gegessen und vorbeifahrende Schiffe beobachtet. „Wie alt bist du, Emilia?" fragt Elisabeth sanft und schaut mich von der Seite an, während ich mit gesenktem Blick zwischen den beiden hertrotte. „Noch 13. Aber ich werde bald 14" antworte ich kurz und knapp, aber bemüht höflich. „Und du kommst direkt hier aus Köln?" fragt Jakob jetzt und ich nicke. „Was machst du denn in deiner Freizeit gerne?" fragt er weiter und ich denke kurz nach. Früher war ich im Turnverein und zwei mal die Woche reiten, seit ich aber in die fünfte Klasse gekommen bin, habe ich mit all dem aufgehört. „Eigentlich nichts... nur Schule... Freunde treffen..." ich zucke mit den Schultern. „Hast du denn viele Freunde? Sind sie in deiner Klasse?" fragt Elisabeth neugierig und wieder zögere ich kurz. „Ja... ich habe in der Schule ein paar gute Freunde... aber keine beste Freundin. Ab und zu gehen wir zusammen nach der Schule in die Stadt oder lernen gemeinsam... nichts besonderes" sage ich. „In welcher Klasse bist du denn? Deine Betreuerin hat was von der siebten Klasse erzählt?" fragt Jakob wieder und ich nicke. „Ja. Siebte klasse. Aber bald sind ja Sommerferien. Dann geht es in die achte Klasse" erkläre ich unnötiger weise. Beide nicken und somit schweigen wir erst mal. Irgendwann fangen sie an, auch etwas aus ihrem Leben zu erzählen: Jakob arbeitet als Restaurantleiter in einem kleinen Lokal hier in Köln und Elisabeth ist Tanz - und Yogalehrerin in einem eigenen Studio. Beide haben eine große gemeinsame Leidenschaft: das Wandern und lesen. Kurz gesagt: sie passen so gar nicht zu dem, was ich bisher so gemacht habe und mir für die Zukunft vorstellen könnte. Trotzdem bleibt es dabei, dass sie insgesamt ziemlich nett zu sein scheinen, wobei ich mir nach wie vor nicht so richtig vorstellen kann, bei ihnen zu wohnen. Aber ehrlicher Weise muss ich zugeben, dass ich mir das bei niemandem außer meinen Eltern vorstellen kann. Wo sie jetzt gerade wohl sind? Ob es ihnen gut geht? Ich schaue in die grelle Sonne am Himmel, während Elisabeth mir etwas über ihre Familie erzählt und muss ein paar Tränen runter schlucken. Mama, Papa, wo seid ihr nur? Ich vermisse euch so unbeschreiblich sehr! Ich brauche euch doch!
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Herztöne (3)
FanfictionGeschrieben: 2021 ••• Emilia ist gerade einmal 13 Jahre alt, da geben ihre Eltern sie aus unbekannten Gründen von heute auf morgen in ein Heim und zur Adoption frei. Der Schock sitzt tief, aber auch sie muss lernen, dass das Leben einfach weiter geh...