Als er fertig ist, verschwindet Jakob fluchtartig ins Badezimmer und ich kann hören, wie er sich mehrfach übergibt. Und ehrlich gesagt geht es mir nicht anders. Ich schließe meine Augen und versuche die Geräusche zu ignorieren. Mein ganzer Körper tut weh - aber vor allem mein Unterkörper. Ich zittere nach wie vor am gesamten Körper. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und ich versuche den Kloß in meinem Hals und die Übelkeit so gut es geht zu ignorieren. Mit aller kraft kämpfe ich gegen die vielen Tränen an, die hinaus auf meine Wangen wollen. Er hat es wieder getan. Und das nur weil er Alkohol getrunken hat. Soll ich wütend sein? Enttäuscht? Verängstigt? Traurig? Ich weiß es nicht. In diesem Moment wünsche ich mir - wie auch beim letzten Mal - einfach nur zu sterben. Jakob übergibt sich immer noch. Entweder wegen des Alkohols oder weil er wieder zu spät realisiert hat, was er getan hat. Wenig später höre ich die Dusche laufen. Ja. Nach duschen wäre mir jetzt auch zumute. Um das eklige Gefühl von mir zu bekommen. Den ganzen Scham und Hass. Einfach alles mit dem heissen wasser wegwaschen. Ich öffne meine Augen wieder und setze mich schniefend auf. Zum Glück habe ich ja mein eigenes Badezimmer. Ich nehme mir meinen Schlafanzug vom Schreibtischstuhl und schleiche auf Zehenspitzen in den Raum eins weiter. Hoffentlich bemerkt Elisabeth von all dem nichts. Ich schließe mich ein, ziehe mich aus und stelle mich dann weinend unter das heisse Wasser. Hier unter der Dusche sieht erstens niemand dass ich weine und zudem hört man es auch nur gedämpfter - wenn man es überhaupt hört. Ich wasche meine Haare und dann meinen Körper, ehe ich schluchzend auf die warmen Fliesen sinke, während das Wasser weiterhin von oben auf mich runter prasselt. Ich ziehe meine Knie an und schlinge meine Arme um sie, dann heule ich immer weiter und weiter, während ich leicht nach vorne und hinten Schaukel. Das eklige Gefühl will einfach nicht besser werden. Irgendwann greife ich erneut zur Shampooflasche und Seife mich erneut ein. Und dann noch mal. Und noch mal. Und noch mal. So oft, bis meine Haut bereits rot gereizt und empfindlich ist. Aber ich schaffe es kaum noch aufzuhören. Ich will dieses beschissene Gefühl einfach nur los werden. Ich will aus der Dusche kommen und feststellen, dass alles wieder okay ist. Als die Flasche leer ist, Pfeffer ich sie wütend mit voller kraft gegen das Glas der Duschkabine und schluchze dann laut auf. Das Geräusch muss unbeschreiblich laut gewesen sein, aber Elisabeth scheint zum Glück weiter zu schlafen. Nach geschlagenen eineinhalb Stunden stehe ich wieder auf und schalte das Wasser aus. Ich schnappe mir meinen Bademantel vom Haken an der Tür und Wickel mich in den sanften, warmen Stoff ein. Dann setze ich mich zusammengekauert auf den Boden vor der Badewanne und lehne mich an dieser an. Das Wassergeräusch aus dem Badezimmer nebenan ist verstummt. Und da ich auch sonst kein Geräusch wahrnehmen, gehe ich davon aus, dass Jakob mittlerweile im Bett ist. Ich reibe meine Haare vorsichtig trocken, Creme mich ein und ziehe mir dann meinen Schlafanzug an. Ich schlurfe zurück in mein Zimmer, jedoch schaffe ich es nicht, mich in mein Bett zu legen. Ich ziehe die Bettwäsche von meinem Bett ab und beziehe es neu. Erst dann lege ich mich auf meine Decke, starre aber nur apathisch an die Decke. Warum habe ich überhaupt geglaubt gehabt, dass Jakob sich geändert hätte? Warum versuche ich grundsätzlich immer an das Gute in Menschen zu glauben? Ich schaffe es in dieser Nacht nicht eine Minute die Augen zu zu machen.
Auch die nächsten Tage sind zum heulen. Nach der Schule verkrümel ich mich immer so lange in die Bibliothek, bis ich sicher weiß dass Jakob weg ist und morgens gehe ich so früh aus dem Haus, dass ich als erstes wach und weg bin. Elisabeth erkläre ich, dass ich gerne lieber zur Schule laufen würde, als das Fahrrad zu nehmen und deshalb auch früher los muss. Sie glaubt mir meine Geschichte, ohne auch nur ein Mal mit der Wimper zu zucken. Nachts schließe ich meine Tür ab und klemme den Stuhl so darunter, dass niemand die Klinke runter drücken kann. So versuche ich mich zu schützen. Als sich nach insgesamt weiteren drei Wochen das ganze ein drittes Mal wiederholt, halte ich es nicht mehr aus.
Ich schleiche noch in der selben Nacht aus dem Haus und kämpfe mich mit unwahrscheinlichen Schmerzen am ganzen Körper von Straße zu Straße, bis ich vor Pauls Haus stehe. Hoffentlich hat er keine Nachtschicht! Ich wische mir schluchzend die Tränen aus dem Gesicht und drücke auf die Klingel. Hoffentlich sind die beiden nicht sauer, dass ich sie mitten in der Nacht aus dem Bett hole. Im Haus bleibt es jedoch still. Ich Klingel ein zweites Mal und warte wieder angespannt ab. Irgendwann setze ich mich weinend auf die oberste Stufe und rolle mich klein zusammen. Dann muss ich wohl bis zum nächsten Morgen warten. „Emilia? Bist du das? Was machst du hier?" ertönt irgendwann Pauls verschlafene Stimme hinter mir. Ich habe die Tür gar nicht aufgehen hören. Erschrocken stehe ich auf, Klammer mich aber zeitgleich am Geländer fest. Bekleidet in einer Jogginghose, Pullover und mit zerzausten Haaren steht er vor mir. „Weinst du? Oh nein! Warum denn?" er reibt sich die Augen und winkt mich zu sich. Ich gehe auf ihn zu lasse mich von ihm in den Arm nehmen. Ich drücke mein Gesicht schluchzend gegen seine Brust und halte mich an ihm fest. „Hast du Herzschmerz ohne mir was gesagt zu haben? Oder willst du morgen nicht in die Schule? Hast du mit Elisabeth und Jakob gestritten? Ist irgendwas vorgefallen?" fragt er und streichelt mir über den Rücken. Ich öffne meinen Mund um etwas zu sagen, schnappe stattdessen aber nur nach Luft. „Komm rein" seufzt er und schließt hinter sich die Tür. Er führt mich zum Sofa, macht zwei Tassen Tee und setzt sich dann zu mir. Hoffentlich schläft Anna weiter - sie kann ich gerade gar nicht gebrauchen!
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Herztöne (3)
FanfictionGeschrieben: 2021 ••• Emilia ist gerade einmal 13 Jahre alt, da geben ihre Eltern sie aus unbekannten Gründen von heute auf morgen in ein Heim und zur Adoption frei. Der Schock sitzt tief, aber auch sie muss lernen, dass das Leben einfach weiter geh...