Kapitel 66

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Unbeschreiblich viele Stimmen sind im Raum zu hören. Ich öffne meine Augen einen Spalt und sehe viele Menschen direkt über mir: ich glaube ein paar Polizisten, aber auch ein paar Sanitäter und Ärzte zu erkennen. „Sie ist wach!" ruft jemand, während ich weiterhin viele Hände an mir spüre. Jemand misst meinen Blutdruck, jemand klebt ein EKG auf meine Brust, jemand anderes verbindet meine Wunden, und eine vierte Person leuchtet mir in die Augen. Ich scheine immer noch in dem selben Raum zu sein, in dem Jakob sich eben noch umgebracht hat. War es überhaupt ‚eben'? Ich schließe meine Augen wieder benommen und schlafe wieder ein.

„Auf drei! Ein... zwei... drei!" weist jemand ein ganzes Team an und plötzlich werde ich von meiner Unterlage auf eine Liege gezogen. Wieder höre ich ganz viele Stimmen und wieder versorgen tausend Hände mich, aber ich schaffe es nicht, dem ganzen zu folgen. Zu anstrengend ist es. Und nachdem mir jemand etwas kühles in den Arm spritzt, döse ich sowieso wieder weg, ohne mich dagegen wehren zu können.

Als ich meine Augen das nächste mal öffne, liege ich in einem weichen Bett. Überall um mich herum sind Kabel, Schläuche und Monitore, die scheinbar meinen Zustand überwachen. Ich versuche meinen Kopf zu drehen, aber mir fehlt die Kraft dazu. Trotzdem scheint jemand mit mir im Raum zu sein und mich zu bemerken, denn aus der Ecke höre ich ein Geräusch, das wie das aufstehen von einem Stuhl klingt. Ich schließe meine Augen noch einmal kurz und als ich sie wieder aufmache, sehe ich direkt über mir Frederik. „Du bist wach!" schluchzt er mit erstickter Stimme und greift nach meiner Hand. Er sieht unglaublich kaputt aus. In so einem schlechten Zustand habe ich ihn noch nie gesehen. Er hat tief dunkle Ringe unter den Augen, seine Haut ist blass und seine Augen glasig. Seine Haare waren noch nie weniger sortiert und sein Hemd ist ziemlich zerknittert. Ich öffne meinen Mund um etwas zu sagen, aber es kommt nichts als ein krächzen heraus. „Sssshhhh... du musst erst noch zu Kräften kommen..." er setzt sich auf meine Bettkante und hält meine Hand an seinen Mund. „Es tut mir so leid! Ich... es tut mir so leid....! Ich habe versagt! Du solltest bei meinen Eltern sicher sein... und dann entführt er dich einfach ohne weiteres aus dem Wohnzimmer... ich... es tut mir leid!... du wolltest doch nur etwas trinken... ich... erinnerst du dich?" schluchzt er und ich nicke. Aber das ist doch nicht seine Schuld?! „Ich wollte dir nur einen perfektes Abend schenken... und jetzt ist es der schlimmste Abend geworden...! Es tut mir so leid! Ich... ich hatte so Angst... dass ich dich nie wieder sehe!" er heult jetzt wie ein kleines Kind und sinkt in sich zusammen. Ich schliesse erschöpft meine Augen. Dann öffnet sich die Zimmertür und Frederik erhebt sich vom Bett, um den Ärzten und Schwestern die rein kommen Platz zu machen. Sie scheinen mitbekommen zu haben dass ich wach bin und führen sofort einige Tests und Untersuchungen durch. Eine viertel Stunde später verschwinden sie wieder. „Du bist hier auf Intensivstation" klärt Frederik mich auf und ich nicke, auch wenn meine Kopfbewegung nur aus wenigen Millimetern besteht. „Paul macht sich genauso Sorgen... soll ich ihm schreiben dass du wach bist?" fragt er und ich nicke wieder. Frederik verschwindet aus dem Zimmer und kommt fünf Minuten später zurück. „Es tut mir leid... ich musste ihm sagen, was in der Nacht geschehen ist... sie... haben dich am ganzen Körper untersucht... um zu wissen, was Jakob alles gemacht hat und wie sie dir helfen müssen... auch Gynäkologisch... und dann haben sie... naja... ich habe gesagt, dass wir in der Nacht miteinander geschlafen haben... um es dir anschließend zu ersparen... und dann musste ich auch eine Aussage machen... und das hat Paul natürlich mitbekommen... erfreut war er nicht... aber ich glaube, das wichtigste ist für ihn, dass du lebst... denn das war ziemlich knapp... die Wunde an deiner Rippe... das ging nur ganz knapp am Herzen vorbei! ... aber Elisabeth weiß von uns beiden dadurch auch... ich... es tut mir leid!" er fährt mir kurz durch die Haare und sinkt dann wieder weinend in sich sich zusammen. Ich würde ihm gerne so viel sagen, aber reden geht ja im Moment eh noch nicht. „Willst du mich überhaupt noch sehen?" fragt er irgendwann und innerlich erschrecke ich. Fragt er das gerade wirklich?! Warum sollte ich ihn nicht mehr sehen wollen? Niemals könnte ich mir ein Leben ohne ihn vorstellen! Die Frage ist eher, ob er so einen Krüppel wie mich noch sehen will. Ich zwinge mich zu einem schwachen lächeln und er heult erleichtert auf. „Ich hatte so Angst um dich!" wiederholt er und beugt sich zu mir runter, um mich vorsichtig zu umarmen. „Der Moment, als er mit dir weg gefahren ist... und dieser Knall... oh Gott, es war so schlimm! Ich dachte, du wärst tot!" Ja. Das dachte ich ehrlich gesagt auch. Mir gehen Jakobs Worte durch den Kopf. Sein Geständnis gegenüber meinen Eltern. Das weiss die Polizei wahrscheinlich noch gar nicht. Er hat sie einfach umgebracht. Jahrelang habe ich mit dem Mörder meiner Eltern zusammengelebt. Ich fange stumm an zu weinen. „Hey... nicht!" Frederik wischt mir sanft die Tränen von den Wangen. Im selben Moment öffnet sich die Tür und Paul kommt rein. Ihn zu sehen gibt mir den Rest. Ich weine noch heftiger als zuvor und schließe meine Augen wieder. „Ich gehe dann mal raus..." verkündet Frederik, aber ich schüttle mit aller kraft den Kopf. „Sollen wir beide da bleiben?" fragt Paul mit belegter Stimme und ich nicke. Sie sind mir beide zu wichtig und ich bin einfach nur froh, diesen Moment überhaupt erleben zu dürfen. Noch besser wäre es nur, wenn auch noch Elisabeth da wäre. Paul beugt sich ebenfalls zu mir runter und umarmt mich so gut es geht, dann küsst er mich auf die Wange. „Wie gehts dir?" fragt er mit weinerlicher Stimme und ich zucke mit den Schultern. „Ich hatte noch nie so viel Angst in meinem Leben wie in dem Moment, als Frederik mich angerufen hat und mir alles erzählt hat" gesteht Paul. Ich blinzle gegen meine Tränen. „Und ich war noch nie in meinem Leben so erleichtert, als ich gehört habe, dass du lebend gefunden wurdest. Die Chancen waren nämlich nicht hoch. Nach fünf Tagen ohne trinken ist das echt ein Wunder... dafür hast du aber auch einen langen Weg vor dir..." erklärt er mir wie es Frederik eben schon getan hat. Fünf Tage? Es hat sich länger angefühlt. Die beiden versuchen mich abwechselnd über alles aufzuklären, was sie über meinen Zustand wissen, über den Einbruch, über Jakob und das Gebäude in dem ich war, auf alles was noch auf mich zukommt und was hätte schief gehen können. Aber von meinen Eltern ist nicht ein Mal die Rede, was mir verrät, dass es noch niemand außer mir weiß.

Herztöne (3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt