Eine halbe Stunde später mache ich mich mit den beiden leeren Gläsern auf den Weg zum Theresen. Ich setze mich auf einen der Barhocker und nenne dem Barkeeper meine Wünsche. Während er die Getränke kunstvoll mischt und anrichtet, schaue ich mich neugierig um. Ich beobachte die vielen Menschen und muss schmunzeln, weil kaum einer bei klarem Verstand ist. Es sind viele Pärchen da - zumindest haben sich an diesem Abend bereits einige gefunden. Aber auch viele Freundesgruppen sind da. Manche bestehen nur aus Frauen, manche nur aus Männern, aber auch viele gemischte Gruppen sind unterwegs. Ich schaue von links nach recht, von vorne nach hinten und an der Bar vorbei in den hinteren Teil des Raums. Plötzlich erstarre ich in meiner Bewegung. Mein Blick bleibt an einem mittelgroßen, schlanken, jedoch gut trainieren Mann hängen. Ich sehe ihn nur schräg von hinten, aber er hat glatte dunkle Haare und von der Seite kann ich ein bisschen sehen, dass er einen leichten Bart hat. Mein Puls schießt in die Höhe und ich habe das Gefühl, jemand drückt mir den Hals zu. Ist das...? Ich rutsche vom Barhocker, aber der Mann hinter der Theke hält mich am Arm fest. „Ihre Getränke!" erinnert er mich und zeigt auf die mittlerweile fertigen Gläser vor mir. „Oh... danke!" Murmel ich etwas neben der Spur, nehme sie in meine Hände und gehe ein paar Schritte durch die Menschenmasse in die Richtung des Mannes. Ich schaffe es, einen erneuten Blick auf ihn zu werfen und genau in dem Moment schaut er in meine Richtung. Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Meine Augen werden groß und ich merke, wie das Blut aus meinem Gesicht in meine Füße sackt. Leicht zitternd und absolut panisch starre ich ihm ins Gesicht. Er kneift kurz seine Augen zusammen, dann verschwindet er in Richtung Toiletten. „Hey... da bist du ja! Hast du vergessen wo wir sitzen? Ich habe schon gedacht du seist einfach gegangen!" lacht Paul plötzlich neben mir und legt seinen Arm um meine Schulter. Ich öffne meinen Mund um etwas zu sagen, aber als kein Ton raus kommt, schiebt er mich zurück zu unserem Tisch. „Alles okay? Du bist ein bisschen blass..." stellt Paul fest, als wir wieder sitzen. Ich nicke und starre angestrengt auf mein Glas. In meinem Kopf ist das reinste Chaos ausgebrochen. Ich bin mir sicher, dass das eben Jakob war, der mir fast gegenüber stand. Wie sollte ich sein Gesicht auch jemals vergessen? Ich schaue mich ängstlich, aber trotzdem bemüht unauffällig um, während meine Hände verkrampft ums Glas greifen. Paul fängt an mir von den neuen Babysachen zu erzählen, die er gestern mit Anna gekauft hat, aber seine Worte sind nur Geräusche, die auf der einen Seite bei mir rein gehen und auf der anderen wieder raus. Warum sollte ich mir einbilden, Jakob ausgerechnet heute hier zu sehen? Aber... ich habe zuvor noch nie erlebt, dass er an so einem Tag um die Uhrzeit in einer Bar gewesen ist. Auf der anderen Seite: was hat er jetzt auch sonst zu tun? Keine Frau, kein Kind und wahrscheinlich auch keinen Job. Vielleicht ist das sein Fluchtort? Immerhin war der Alkohol früher schon einer seiner größten Freunde und Feinde zugleich. Gut um zu vergessen. Ich schaffe es nicht, ihn noch einmal zu entdecken, trotzdem werde ich für den Rest des Abends das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. „Ich glaube, ich werde langsam müde" teile ich Paul nach insgesamt drei Stunden mit und schiebe mein leeres Glas zu ihm. „Na gut. Es ist ja auch schon spät" seufzt dieser und bringt unsere Gläser zurück. „Komm, ich fahre dich zurück. Ich hatte ja eh nur ein Bier und sonst nur Cola. Dann musst du nicht laufen... oder das Taxi nehmen" Paul reicht mir meine Jacke und ich ziehe sie mir schnell über. Auf dem Weg zum Ausgang versuche ich mich noch einmal möglichst gründlich umzuschauen, aber Jakob - oder wer auch immer dieser Mann war - taucht nicht noch einmal in meinem Blickfeld auf.
„So. Da wären wir... sag mal... ist so ein großes Haus alleine nachts nicht unwahrscheinlich gruselig? Das stelle ich mir immer vor, wenn du mir schreibst, dass Frederik Nachtschicht hat..." Paul schaut an mir vorbei durch die Fensterscheibe auf Frederiks Anwesen und ich nicke. „Doch. Ist es. Deshalb schreibe ich auch immer viel mit dir, Elisabeth oder Frederik wenn nicht allzu viel los bei ihm ist, um mich etwas sicherer zu fühlen und abzulenken. Gestern hatte Elisabeth sogar zwei Stunden Zeit zum telefonieren" antworte ich. „Ich fürchte, um diese Uhrzeit sind nur noch die wenigsten wach... aber wenn was ist, melde dich" er lächelt. „Ha ha. Sehr witzig" entgegne ich trocken und ziehe eine Augenbraue hoch. Wir beide wissen, dass er ab 23 Uhr immer seinen Flugmodus eingeschaltet hat und dann nicht mehr erreichbar ist, außer über sein Diensthandy - Anna zuliebe. „Du schaffst das!
Hier ist es auf jeden Fall sicher" Paul beugt sich zu mir rüber, um mich zu umarmen. Ich schnalle mich ab und erwidere die Umarmung. „Komm gut nach Hause! Danke fürs Fahren und für den schönen Abend!" ich merke, wie schwer es mir fällt, ihn gehen zu lassen. Zu präsent ist Jakobs Anwesenheit in meinem Kopf. „Gerne. Das bekommen wir nächste Woche wieder hin". Ich nicke und steige mit Tränen in den Augen aus. Meine Angst ist so groß, dass meine Knie wie nach einem stundenlangen Beintraining zittern. Wie in Zeitlupe gehe ich auf die Haustür zu - innerlich hoffe und wünsche ich mir nichts mehr, als dass Paul aussteigt und verkündet, dass Anna ihm mal wieder befohlen hat, bei mir zu bleiben. Aber dieser Fall tritt nicht ein. Sobald ich die Haustür hinter mir geschlossen habe, höre ich Paul vom Hof fahren. Ich starre den hell erleuchteten Flur entlang und beschließe, es mir im Wohnzimmer bequem zu machen. Alles in mir sträubt sich dagegen, alleine nach oben zu gehen, wo es noch dunkler ist. Ich hole mein Handy raus und schreibe Frederik eine Nachricht, in der ich ihn frage, ob er viel zu tun hat, oder ob es ruhig ist. Als jedoch eine viertel Stunde später immer noch keine Antwort da ist, muss ich schmerzlichst begreifen, dass er heute keine Zeit für mich hat. Ich schalte den Fernseher an und rolle mich so klein es geht unter der Decke zusammen. Sogar meinen Kopf bedecke ich mit dem Stoff. Ich versuche die vielen knarrenden und knacksenden Geräusche, die das Haus so von sich gibt zu ignorieren und auch ein Blick zum Fenster versuche ich zu vermeiden - schon als Kind hatte ich immer Angst vor der Dunkelheit und vor allem davor, gruselige Gestalten zu entdecken, die es auf mich abgesehen haben. In meinem Fall ist nur einer mit ‚gruselige Gestalt' gemeint: nämlich Jakob.
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Herztöne (3)
FanfictionGeschrieben: 2021 ••• Emilia ist gerade einmal 13 Jahre alt, da geben ihre Eltern sie aus unbekannten Gründen von heute auf morgen in ein Heim und zur Adoption frei. Der Schock sitzt tief, aber auch sie muss lernen, dass das Leben einfach weiter geh...