Kapitel 2

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„Später wirst du einer Psychologin vorgestellt, die versuchen wird, dir alle Fragen zu beantworten. Sie wird mit dir über das was geschehen ist, reden. Ich weiß nicht, warum deine Eltern dich hierher gebracht haben. Aber ich bin mir sicher, dass sie es getan haben, weil sie dich lieben und sie denken, dass du hier vorerst besser aufgehoben bist. Vielleicht haben sie Sorgen, vielleicht haben sie Angst vor etwas und möchten dich beschützen. Aber ich denke, es wird nicht lange dauern, dann wirst du wieder mit ihnen reden können" antwortet mir meine Betreuerin zwanzig Minuten später auf meine geheulten Fragen, die teilweise sehr unverständlich und insgesamt sehr durcheinander waren. Mir reicht das ehrlich gesagt nicht als Antwort. Auch wenn ich vieles noch nicht verstehe. „Ich würde vorschlagen, du ziehst dich mal um, dann gehen wir rüber zu den anderen etwas frühstücken und dann schauen wir weiter. Lasse den Kopf nicht hängen, es wird sich alles klären" sie lächelt aufmunternd und ich nicke. Was bleibt mir auch anderes übrig? Ich stehe von dem durchgesessenen Sofa auf und schlurfe zurück in ‚mein' Zimmer, wo ich die Jeans von gestern und auch den Pullover, der lieblos daneben liegt, vom Boden auf. Die beiden Mädchen schlafen immer noch und somit ziehe ich mich bemüht leise um, bevor ich zurück in den Aufenthaltsraum komme. „Fertig?" fragt die Frau mich und ich nicke. Ich kann mich nicht einmal an ihren Namen erinnern, aber ist es denn überhaupt wichtig? Wir betreten den großen Speisesaal, wo bereits Dutzende andere Kinder sitzen und wild plappernd Brötchen schmieren und sie sich in den Mund stecken. Ich lasse mich auf den vordersten Stuhl fallen, komme aber nicht einmal auf die Idee etwas zu essen. Ich habe weder Hunger, noch Appetit. „Versuche es zumindest" bittet mich jetzt eine andere Frau, die mir neu ist, als könnte sie meine Gedanken lesen. „Ich möchte nicht, tut mir leid!" entschuldige ich mich mit einem standhaften Kopfschütteln und schaue ihr hinterher, wie sie wieder verschwindet. Während alle anderen um mich essen, bleibe ich ohne mich auch nur ein Mal zu bewegen mit verschränkten Armen und Tränen in den Augen auf meinem Stuhl sitzen. Erst als wir die Erlaubnis bekommen wieder aufzustehen, flüchte ich zurück in mein Zimmer. Meine zwei Mitbewohner sind mittlerweile sogar immerhin wach. „Ey, komme nicht noch mal auf die Idee, uns sonntags so zu wecken!" ermahnt mich erneut das dunkelhaarige Mädchen aus der rechten Ecke. Ich nicke nur schüchtern und lege mich auf mein Bett. Ich muss schauen, dass ich hier ganz schnell weg komme! Egal wie. Egal wohin. Hauptsache weg. Ich schließe meine Augen und versuche mich nicht auf den dicken Kloß in meinem Hals zu konzentrieren, sondern auf meine ruhige Atmung. Wenig später höre ich, wie sich die Tür neben meinem Bett öffnet und wieder schließt. Als ich meine Augen auf mache, bemerke ich, dass ich jetzt alleine in meinem Zimmer bin. Ich setze mich wieder auf, lege mein Gesicht in meine Hände und fange an nachzudenken. Die einzige Möglichkeit hier weg zu kommen ist die, mich nachts aus dem Fenster hier zu schleichen. Alleine nach draußen darf ich nämlich noch nicht. Ich reibe mir kurz die Augen, dann gehe ich zum Fenster, öffne es und schaue raus. Der Ausstieg ist perfekt, wobei es mich wundert, dass man hier einfach so nach draußen spazieren kann. Jetzt dürfen nur meine beiden Zimmergenossen nichts mitbekommen - denn bei denen kann ich absolut nicht einschätzen, ob sie mich verpetzen würden oder nicht. Aber es ist Samstagabend. Vielleicht sind sie wieder mit ihren Freunden draußen unterwegs. Das wäre natürlich meine Chance! Ich schaue blinzelnd in den hellen Himmel über mir, bis meine Augen anfangen zu Tränen, dann schließe ich das Fenster wieder und lege mich zurück auf mein Bett. Den Rest des Tages verbringe ich damit, heulend in meinem Bett zu liegen und mich vor allem und fast jedem (außer der Psychologin, die eine Stunde lang versucht mit mir zu reden, bis sie es aber entnervt aufgibt, da ich sie konsequent anschweige) zu verstecken. Auch das Mittag - und Abendessen lasse ich ausfallen, da mir weiterhin die Lust, der Appetit und der Hunger zum Essen fehlen. Erst als es auf den Fluren ganz leise geworden ist, fange ich vorsichtig an, alle eventuell wichtigen Gegenstände in meinen Rucksack zu packen. Meine beiden Mitbewohner - ich habe herausgefunden, dass sie Lisa und Anna heißen - sind tatsächlich wieder unterwegs und damit habe ich alles, was ich mir für meine Flucht gewünscht habe. Als ich fertig mit packen bin - der Inhalt meines Rucksacks besteht aus einer Jacke, Taschentüchern, meinem Stofftier, 5€ und einer Trinkflasche (mein Handy lasse ich absichtlich zurück, um nicht geordnet werden zu können) - lege ich mich ganz leise unter meine Bettdecke und starre in der Dunkelheit an die Decke über mir. Ab und zu kann ich die Schritte der Betreuer hören, die auf den Fluren auf und ab laufen. Ich sollte noch etwas warten, zu lange darf ich mir aber auch nicht Zeit lassen, da sonst Lisa und Anna zurück kommen könnten. Ich schließe meine Augen und atme tief ein und aus. Insgesamt halte ich es noch eine Stunde aus, mich unauffällig zu verhalten, dann packt mich die Ungeduld. Ich schlage die Bettdecke zur Seite, ziehe meine Schuhe an und den Rucksack über die Schulter und tapse auf Zehenspitzen zum Fenster. Millimeter für Millimeter öffne ich es, damit der Griff nicht anfängt zu knacken und setze mich auf den Fensterrahmen, als ich es geschafft habe. Ich schaue ein letztes Mal über meine Schulter in das dunkle Zimmer, dann rutsche ich über die Schwelle nach draußen. Erneut bleibe ich mucksmäuschenstill im Gras sitzen und lausche in die Nacht hinein, aber es ist nicht zu hören. Auf allen Vieren krabbel ich unter den beleuchteten Fenstern des Heimes durch, bis ich das Ende des Gebäudes erreicht habe. Ich richte mich auf, drehe mich ein letztes Mal um und schaue breit grinsend zurück zum Eingang. Ich habe es tatsächlich getan. Nicht, dass es schwer gewesen wäre, aber ich hätte mir ehrlich gesagt selber niemals zugetraut, dass ich mich so etwas trauen würde. Ich ziehe die Gurte meines Rucksacks enger, dann verschwinde ich rennend in die Dunkelheit.

Herztöne (3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt