52.1. Life in Pieces

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Life in Pieces

Ein kalter Wind weht mir durchs Haar und wirbelt den grauen Staub auf, der sich wie eine zweite Hautschicht über das gesamte Kapitol gelegt hat. Der Geruch von verbranntem Holz und nassem Stein steigt mir in die Nase und jede Faser meines Körpers will einen Schritt zurück machen. Ich stehe in den Trümmern der Hauptstadt. Auf dem Weg hierher sind wir an so viel Zerstörung vorbeigefahren, dass ich mit dem Schlimmsten gerechnet habe. Ein Teil von mir hat gehofft, dass sich damit vielleicht alles erledigt hätte. Das Schicksal meint es jedoch nicht gut mit mir.

Das Anwesen meiner Eltern sieht aus wie immer. Als hätten sie nur kurz das Haus verlassen. Als würden sie jeden Augenblick wiederkommen. Wenn ich die Lider fest zusammenpresse, kann ich vor meinem inneren Auge sehen, wie sie aus der Tür herausspaziert kommen und mir einen tadelnden Blick zuwerfen.

Warum stehst du denn hier draußen so herum, Euphemia?

Allein das Unkraut und das hochgewachsene Gras im Vorgarten geben Aufschluss darauf, dass lange niemand heimgekehrt ist.

„Wir können auch ein anderes Mal wiederkommen", sagt Haymitch neben mir. Er berührt mich nicht, aber ich spüre, dass er es gern tun würde. Ich bin froh, dass er lässt.

Langsam schüttele ich den Kopf und zwinge mich dazu, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich hole den Schlüssel aus meiner Manteltasche hervor, den mir die Rebellen im Präsidentenpalast gegeben haben und öffne die Tür. Über die Schulter hinweg schaue ich von Haymitch zu den zwei Soldaten in grauer Uniform. Sie sind am Wagen stehengeblieben, der uns hergefahren hat. Ein langer Blick zu Haymitch reicht, um ihm meine Nachricht zu vermitteln. Ich will nicht, dass Fremde dieses Haus betreten. Haymitch nickt und gibt den Rebellen ein Handzeichen.

Das Viertel, in dem das Anwesen meiner Eltern steht und in dem ich großgeworden bin, ist weniger stark von der Zerstörung betroffen. Dennoch ist viel vernichtet worden. Vom Hauptplatz, wo ich meine Mutter zum letzten Mal getroffen habe, ist kaum etwas übrig. Dasselbe gilt für die Universität und eine Reihe an Geschäften und Wahrzeichen. Doch die Wohngegenden sind unbeschadet davongekommen.

Ich stehe im langen Flur, der mir heute größer und länger erscheint als er ohnehin ist, und starre wie gebannt auf das Familienportrait, das an der Wand neben dem Kleiderraum hängt. In der Mitte stehen meine Eltern, meine Mutter natürlich herausgeputzt wie eh und je. Links stehe ich, ebenfalls bis auf die Wimper hergerichtet. Rechts steht Aurelia und neben ihr Caius. Wir alle lächeln in die Kamera. Das Bild muss mittlerweile fünf Jahre alt sein, weil ich mich noch genau an die hellblaue Perücke auf meinem Kopf erinnern kann und wie froh ich war, als dieser Trend endlich ein Ende gefunden hat. Seltsam, welche Belanglosigkeiten damals eine Bedeutung für mich gespielt haben.

Mein Blick schweift durch den Gang und bleibt an einer cremeweißen Kommode hängen. Die Autoschlüssel liegen abrufbereit in einer kleinen Silberschale, falls jemand kurzfristig das Haus verlassen muss. Die Tür zum Kleiderraum ist offen und die liebsten Mäntel meines Vaters hängen alle nebeneinander aufgereiht. Sie haben sie geholt, als er zuhause war, so viel ist sicher.

Meine Füße bewegen sich wie von selbst vorwärts, durch den marmorierten Flur bis zur nächsten hölzernen Doppeltür, die weit offensteht. Die Küche ist blitzblank, so wie immer. Meine Mutter hat nie gekocht. Nicht einmal im Traum hätte sie daran gedacht, sich die Hände schmutzig zu machen, wenn es dafür Bedienstete gab. Die Küche war immer schon ein kalter, seelenloser Ort gewesen und ich verlasse sie, ohne sie wirklich betreten zu haben.

Bring hier nichts durcheinander, Euphemia, sag einfach nur einem der Angestellten, was du essen willst.

Das Wohnzimmer hingehen ist wärmer. Beige und Weiß dominieren mit moderner Einrichtung. Das Händchen meines Vaters, der sich um alles gekümmert hat, was auch nur im Entferntesten mit Gestaltung und Konstruktion zu tun hatte. Und dennoch ... auch diesem Raum fehlt es an Leben. Als wäre dieses Haus nichts weiter als ein Ausstellungsstück; ein perfektes Werbehaus, welches man Kunden vorführt, in dem aber niemand wirklich wohnt. So ist es immer schon gewesen. Mein Vater war zu selten hier, um aus dem Haus ein Zuhause zu machen und meine Mutter ... sie hat alles getan, um das ideale Bild einer idealen Familie aufrechtzuerhalten. Und das fing bei der Makellosigkeit des Anwesens an.

Figure It Out (Hayffie)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt