Mittlerweile hat es die Sonne geschafft, sich ihre Vormacht am Himmel zu erkämpfen. Der Schnee schmilzt und das Babyblau des Horizonts wird durch keine einzige Wolke unterbrochen. Das hier ist der Umschwung, von dem Haymitch gesprochen hat. Aber ich habe für diesen gerade keinen Funken der Beachtung übrig. All mein Fokus ist auf das Outfit geheftet, welches wie von selbst auf dem Bett aufgetaucht ist. Ich starre so lange darauf, fast so als würde es sich gleich wieder in Luft auflösen, wenn ich nur lang genug hinschaue. Aber nichts passiert. Das graublaue Kleid verschwindet nicht wieder, ebenso wenig wie die gleichfarbigen Handschuhe oder die blonde, aufgebauschte Perücke. Meine Augen wandern tiefer. Ich habe seit Monaten nicht mehr in so hohen Schuhen gesteckt. Zurück in Distrikt 13 habe ich nur auf den Tag gehofft, an dem ich so etwas endlich wieder tragen dürfte. Jetzt ist mir flau im Magen und ich kann nicht mal sagen, weshalb.
Natürlich weiß ich, weshalb man mir dieses Kleid vorbereitet hat. Ich kenne meine Aufgabe für den heutigen Tag. Katniss vorzubereiten, soll sich also genau so anfühlen, wie die letzten zwei Jahre. Jeder soll wissen, dass das Kapitol selbst auf der Seite der Rebellen steht – dass Snow von seinen eigenen Leuten verraten wurde. Dafür ist mit diesem Outfit auf jeden Fall gesorgt. Ich habe keine Zeit, zu zögern. Mit jeder Minute, die ich vergeude, kommt die Exekution von Coriolanus Snow etwas näher.
Eine Stunde später betrachte ich mich im breiten Spiegel gegenüber von unserem Bett. Ich starre und starre und kann nicht aufhören. Das hier ist die alte Effie. Das hier bin nicht länger ich, oder doch? Ich habe das Gefühl, direkt in die Vergangenheit zu schauen. Als wäre das Gefängnis nie passiert, als wären die Hungerspiele immer noch am Laufen, als wären meine Eltern immer noch am Leben. Ich starre und starre und das Einzige, was sich verändert hat, ist der Ausdruck auf meinem Gesicht. Die Freude, der Übermut, das Hochgefühl sind verschwunden.
In diesem Moment schwingt die Tür auf und Haymitch erstarrt im Türrahmen, der Flachmann an seinen Lippen verharrt. Seine stürmischen Augen werden groß und dann reibt er sich die Lider, als würde er Geister sehen. „So viel habe ich eigentlich nicht getrunken", bringt er schmerzhaft hervor, als würde mein Anblick ihm Qualen bereiten.
„Sie wollen, dass ich es für die Hinrichtung trage", sage ich in die erdrückende Stille und warte.
Haymitch schwankt herein, setzt sich auf die Bettkante und kneift die Brauen zusammen. Dann schüttelt er vehement den Kopf. „Diese verdammte Frau", zischt er und knirscht mit den Zähnen. Er nimmt einen Schluck aus dem Flachmann. „Gott, wie ich diese Furie hasse."
„Und ich hasse es, wenn du trinkst", entgegne ich mit verschlossenem Gesicht und greife das Klemmbrett von der Kommode, wo alles draufsteht, was ich mit Katniss vor der Hinrichtung durchgehen muss.
„Ich werde aufhören", verspricht Haymitch nach einer gedehnten Pause. „Wenn das alles endlich ein Ende hat."
Ich wirbele zu ihm herum, wütend auf Coin wegen dieses Outfits und wütend auf Haymitch, weil ich weiß, dass er lügt. „Du wirst nie aufhören", bringe ich unter zusammenpressten Lippen hervor. „Du bist ein schwacher Alkoholiker. Selbst wenn du wolltest, könntest du nicht aufhören. Ich stelle mich meinen Dämonen tagtäglich, während du die erstbeste Gelegenheit genutzt hast, um vor deinen wieder davonzulaufen."
Ich weiß, dass ich unfair bin, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Haymitch verzieht das Gesicht, aber ich drehe mich fort von ihm, bevor ich ausmachen kann, ob es Zorn oder etwas anderes ist. Meine Füße bewegen sich wie von selbst zur Tür und obwohl ich seit Monaten keinen Tag in Highheels verbracht habe, habe ich das Gefühl zu schweben, als ich aus unserem Apartment stürme.
Über die letzten Wochen haben die Soldaten sich an mein Aussehen gewöhnt. Sie wussten, wer ich bin und haben irgendwann wieder über mich hinweggesehen. Jetzt, wo ich wieder aussehe wie meine Public Persona, zögern und halten sie inne, genauso wie damals als ich in Distrikt 13 angekommen bin. Ich werde nie zu ihnen gehören, egal was ich tue. Nein. Ich werde immer eine Kapitolerin bleiben und nun, wo ich der alten Effie so nahe bin, wie lang nicht mehr, spüre ich, wie mein Kinn sich ganz von selbst in die Höhe reckt und sich der erhabene Ausdruck in meine Augen schleicht. Ein Teil von mir ist froh, aus dem Kapitol zu sein, was auch immer das heute noch bedeuten mag.
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Figure It Out (Hayffie)
FanfictionEffie Trinket, nur ein weiteres Schoßhündchen des Kapitols. Das Jubeljubiläum beginnt und plötzlich zeigt sich, dass doch nicht so sehr vom Kapitol besessen ist, wie vorerst angenommen. Die Revolution kommt ins Rollen und Haymitch -der ihr näher gek...