34.1. When I See You Again

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Song Inspiration für dieses Kapitel: When I See You Again (feat. Charlie Puth) – Wiz Khalifa

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When I See You Again

Haymitch hat sich seit unserer letzten Begegnung im Trainingscenter kaum verändert. Dieselben blonden Haare, die ihm in ungezähmten Strähnen über das Gesicht fallen. Derselbe kurze Bart, der kaum als Bart bezeichnet werden dürfte, weil er nur aus Stoppeln besteht. Dieselben grauen Augen, nur dass sie mich heute mit einem mir fremden Fokus mustern. Der Blick darin ist stark konzentriert, er scheint hellwach zu sein. Die tiefen, dunklen Augenringe zeugen jedoch vom Gegenteil. Er trägt eine graue Uniform. Sie ähnelt der der Soldaten, die mir in meiner Zelle begegnet sind, oder der in dem Video, das Caesar Flickerman mir in einem der Interviews gezeigt hat. So wie Dr. Jennings.

Mit vorsichtigen Schritten, die Haymitch ganz sorgfältig abzuschätzen versucht, nähert er sich meinem Bett und bleibt schließlich an dessen Fuß stehen. Der Ausdruck in seinen grauen Augen erinnert mich an den eines unerfahrenen Kindes, das im Wald auf ein Reh trifft und nun versucht sich ihm zu nähern, ohne dass es aufschreckt und davonläuft.

Als ich an Haymitch vorbeischaue und merke, dass Dr. Jennings den Raum still und heimlich verlassen hat, fühle ich mich tatsächlich ein wenig wie dieses Reh. Scheu und ängstlich, ob dieses Kind mir gegenüber überhaupt wohlgesonnen ist. Ich wage es nicht zu sprechen. Alles was ich in diesem Moment tun kann, ist Haymitch aus geweiteten Augen zu betrachten und darauf zu warten, dass er den nächsten Schritt macht.

Haymitch betrachtet mich ebenso, nun mit zurückhaltendem Blick aus reservierten Augen. Ich kann nicht sagen, was er bedeutet. Aber ich bin mir sicher, dass ich selbst früher nicht gewusst hätte, diesen Blick zu deuten. Er ist mir neu. Er ist Teil des neuen Haymitch. Alles, was ich sehe, ist eine mir fremde Distanz. Als fürchte er, ich könnte etwas aus seinen Augen lesen, das er nicht preisgeben möchte. Bevor ich mich fragen kann, ob er mich früher bereits genauso angeschaut hat – damals als er mir die Rebellion verschwieg – und ob es mir vor lauter Stress, Verwirrung und Emotionen der Hungerspiele einfach nie aufgefallen war, beginnt er zu sprechen.

„Johanna geht es gut", sagt Haymitch zu meiner Überraschung. „Mehr oder weniger zumindest. Sie kommt mit den Schmerzen wohl nicht so gut klar, deshalb ist sie meistens ausgeklinkt. Die Ärzte geben ihr mehr Morphium als ihr guttun würde. Aber selbst wenn sie wach ist, wäre sie wahrscheinlich nicht in der Verfassung, dich wiederzuerkennen."

Seine Stimme klingt heiser und rau, wie wenn er seit einer langen Zeit nicht mehr gesprochen hätte. Auch der Rhythmus seiner Aussprache hat sich verändert. Er reiht die Wörter anders aneinander als früher, wodurch sich der Klang seiner Sätze verändert hat. Beinahe lautlos. Es fehlt die Energie, die damals in seinem Ton lag. Als fehle ihm die Kraft, seine Stimme zu heben. Heute scheint er die Wörter beim Sprechen eher herunterzuschlucken, anstatt sie auszusprechen.

Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Wenn ich ihn anschaue, sehe ich den Haymitch, den ich schon seit mehr als zehn Jahren kenne. Die Zeit hat ihn nicht verschont, so wie sie es bei den wenigsten tut. Wenn ich mir das Bild unserer letzten Begegnung im Trainingscenter vor Augen führe, dann hat sich der Mann, der nun vor mir steht, offensichtlich verändert. Jedem, der ihn nicht so gut kennt wie ich, wären die Veränderungen womöglich kaum aufgefallen. Aber ich kenne ihn. Tust du das immer noch?

Und nun seine Stimme, die, wenn ich Haymitch zuhöre, mir kaum mehr vertraut vorkommt. Im Laufe meiner Zeit im Gefängnis habe ich oft darüber nachgedacht, wie sehr ich mich über die Monate verändert habe. Nie aber war mir in den Sinn gekommen, dass auch er sich verändern würde. So vieles hat sich verändert.

Figure It Out (Hayffie)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt