38.2. It Is All Gone

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„Du weißt, dass sie die Präsidentin ist", erwidert Haymitch schulterzuckend und lehnt sich in seine Bank zurück. Seine Stimme nimmt einen unzufriedenen Ton an und auf die Weise wie er die Augen zusammenkneif und sich auf die Innenseite seiner Wange beißt erkenne ich, dass er nicht glücklich mit ihr zu sein scheint. „Viel mehr gibt es da nicht zu erzählen."

„Ja, sie ist die Präsidentin", betone ich und gebe mir Mühe, seinen unbefriedigten Ausdruck zu imitieren. „Du hast diese Hierarchie schon immer verabscheut, also sag mir nicht, dass du nichts an ihr auszusetzen hättest. Ich kann dein Gesicht sehen, wenn du von ihr sprichst."

„Na gut", murmelt er dann und die Falten, die sein Gesicht zeichnen gewinnen an Tiefe. Er hebt die Arme in einer abwehrenden Geste, als wüsste er es selbst nicht besser. „Sie rationiert alles. Essen, Wohnraum, Freizeit. Selbst Medizin, auch wenn das im Moment schwieriger ist, weil sie nicht genügend Ärzte haben. Das gefällt mir nicht, auch wenn ich verstehe, warum sie es tut. Sie geht nicht gut mit Katniss um. Wäre es nach ihr gegangen, hätten wir Peeta aus der Arena befreit und nicht das Mädchen. Coin kann sie nicht kontrollieren und das stört sie. Sie ist eine herrische Frau, die jeden befehligen will, weil es die Mentalität hier in Dreizehn ist."

Für eine Weile herrscht Schweigen zwischen uns. Rationierung ist ein Wort, das mir in meinem Leben kaum begegnet ist. Im Kapitol gab es Lebensmittel im Überfluss, genauso wie Kleidung, Wohnraum und Zugang zu ärztlicher Versorgung. Mittlerweile kenne ich ein Leben ohne diese Grundbedürfnisse. Ich weiß, wie es ist zu hungern, also werde ich wohl kaum Probleme haben, mich diesen Regeln unterzuordnen. Manchmal, wenn Dr. Jennings mir etwas zu Essen bringt, schließe ich die Augen und stelle mir vor, was anstelle des mageren Quarks und dem Obst auf meinem Teller liegen könnte. Aber das ist Wunschdenken, das ich in von mir wegschieben kann. Es ist nur ein Funke der Hoffnung, den ich mir verzweifelt versuche, zu bewahren. Für den Fall, dass diese Hölle eines Tages vielleicht doch ein gutes Ende findet.

„Soll sie Panem führen, wenn Präsident Snow hingerichtet wird?" Haymitch zuckt tatsächlich zusammen, als mir die Worte über die Lippen gehen, ohne dabei die Miene zu verziehen. Hat er erwartet, dass es mir schwerfallen würde, Snows Niedergang zu akzeptieren? Ich hege keine Sympathie für Coriolanus Snow, nicht nach meiner Zeit in den untersten Ebenen des Kapitols. Selbst vorher habe ich mich nie wirklich für ihn interessiert. Er war einfach da, wir alle wussten es, aber er stand nie im Mittelpunkt unserer Wahrnehmung. Möglicherweise war genau das immer sein Ziel gewesen.

„Es soll Neuwahlen geben, sobald die Sicherheit im ganzen Land garantiert ist. Coin wird also mindestens noch für eine Weile nach Ende des Kriegs an der Spitze stehen. Sie wird sicherlich an der Macht bleiben wollen", gibt Haymitch schließlich zu und massiert sich in einer schwachen Geste die Schläfe. Er muss wohl schon lange auf den Beinen sein, wenn er so früh am Morgen bereits erschöpft ist.

Seine Erwiderung bringt mich zum Lachen und Haymitch schlägt bei dem Geräusch verwundert die Augen auf. Es ist kein fröhliches, glockendes Lachen und für den Bruchteil einer Sekunde sehe ich die Enttäuschung darüber in seinen grauen Pupillen aufblitzen. Für einen Moment sind wir beide von meinem erschöpften Lachen so abgelenkt, dass ich in meinen verschwommenen Erinnerungen zurückgehe und mich frage, wann ich das letzte Mal ehrlich und glücklich neben ihm gelacht habe. Bevor ich eine Antwort auf die Frage finden kann, wie er offensichtlich auch nicht, reißt mich ein ferner Ruf aus dem Gang zurück in die Gegenwart. Schritte hallen an der Kantine vorbei und verschmelzen wieder mit der sonst so überwältigenden Stille um uns herum. „Ist es nicht merkwürdig, dass ihr einen Diktator stürzen wollt, nur um dann vielleicht direkt den nächsten wieder auf den Thron zu setzen?"

Man kann Haymitch förmlich ansehen, wie ihm jede Antwort, die er vorbereitet hatte, im Halse stecken bleibt. Er öffnet den Mund, ohne einen Laut hervorzubringen, doch das Erstaunen in seinem Gesicht hält sich in Grenzen. Dann senkt er nachdenklich den Blick. Er muss sich dieselbe Frage schon gestellt haben. Ich nutze seine Sprachlosigkeit, um ihn eingehender zu betrachten. Neben der allgegenwärtigen Erschöpfung, die ihn zeichnet, fallen mir zum ersten Mal die Muskeln auf, die er sich vor all den Monaten für das Jubeljubiläum angeeignet hat. Der Entzug hat die Masse schrumpfen lassen, aber sie ist immer noch sichtbar. Er wirkt breiter und kräftiger als in der Zeit vor Katniss und Peeta, jünger sogar. Seine Haut hat an natürlicher Strahlkraft gewonnen. Ein wenig erinnert er mich an sein Erscheinungsbild zu seiner Glanzzeit, als er seine Spiele gerade gewonnen hatte. Es ändert nichts daran, dass sein gesamtes Erscheinungsbild niedergeschlagen und frustriert wirkt. Als hätte er seine Motivation verloren.

Figure It Out (Hayffie)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt