2. On The Surface

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On the Surface

„Na, was treibt dich denn hierher, Süße?"

Ich bin so in Gedanken vertieft, dass ich seine Anwesenheit gar nicht mitbekommen habe. Erschrocken fahre ich herum. Wie lange steht er schon im Türrahmen? Haymitch steht einfach da, mit dem Anflug eines Grinsens auf den Lippen und einer Weinflasche in der Hand. Sein blondes Haar fällt ihm leicht über die Stirn. Er macht sich nicht mal die Mühe es wegzustreichen.

Plötzlich kommt mir mein Nachthemd viel zu freizügig vor. Wie dankbar ich bin, mein Make-Up nicht abgenommen zu haben! Ohne ihm eine Antwort zu geben, stehe ich auf und will an ihm vorbei schlüpfen, als er anfängt mich zu mustern. „Du bist ja niedlich klein", bemerkt er und lacht vergnügt. „Wie ist denn die Luft da unten?"

Wütend funkele ich ihn an, doch ihn scheint das nicht zu stören. Ich flüchte schlagartig aus dem Abteil, rufe ihm jedoch über meine Schulter hin zu: „Kümmer du dich lieber mal darum, dass du bis zum Morgengrauen nicht vollkommen dicht bist!"

Ich weiß, dass er es gehört hat, aber er reagiert nicht. Er ist nicht sehr lange nüchtern gewesen, aber jeder hätte sich denken können, dass das passieren würde. Allerdings war mein Verhalten gerade nicht wirklich angemessen. Sobald ich mein Zimmer erreicht habe, verriegele ich die Tür hinter mir. Schweigend mache ich mich daran, meine Perücke abzunehmen. Sie ist mit vielen kleinen Nadeln in meinem Haar befestigt. Es dauert also eine Weile, bis ich sie vollständig entfernt habe. Ich löse den Zopf meiner echten Haare und kaum einen Augenblick später fallen sie mir in weichen, blonden Locken über die Schulter bis auf die Brust. Dann kümmere ich mich um mein Gesicht. Zum Glück ist es wesentlich einfacher die Unmengen an Make-Up zu entfernen.

Aus dem Spiegel heraus betrachtet mich eine fremde Frau. Ohne die viele Schminke, das falsche, aufgesetzte Lächeln und die künstlichen Haare wirke ich wie ein völlig anderer Mensch. Genauso fühle ich mich auch. Nicht an meinem schlimmsten Tag kann ich es mir vorstellen, so einen Fuß auf die Straße zu setzen. Jetzt erst kann ich die unterschiedlichen Emotionen sehen, die sich in meinen Augen spiegeln, weil sie vorher von all dem Make-Up verdrängt wurden. Meine Gefühle sind wie ein Geheimnis, das ich durch das Make-Up schütze. Schließlich bin ich die Einzige, die mich je so sieht.

Müde lösche ich das Licht und versuche im Dunkeln ins Bett zu krabbeln. Gar nicht so einfach. Zum Glück spendet der Mond etwas Licht, sodass ich es dann doch ins Bett schaffe und dankbar die Augen schließe.

oOo

Heute steht die Eröffnungsfeier vor der Tür. Besonders für die Kapitoler ein besonderer Augenblick, ihre Lieblinge aus vielen Jahren wiederzusehen. Ich habe mich mit gemischten Gefühlen in den Tag gestürzt und sitze nun fertig angezogen am Tisch im Trainingscenter. Katniss und Peeta sind bereits bei unserer Ankunft in die Hände ihrer Vorbereitungsteams gegeben worden. Haymitch hat sich nicht blicken lassen. Wahrscheinlich schläft er gerade seinen Kater aus.

Ich erinnere mich an unsere seltsame Begegnung letzte Nacht im Zug und beuge mich seufzend und kopfschüttelnd über meinen Ordner. Dort habe ich alle wichtigen Sponsoren aufgelistet, die Haymitch und ich in den Tagen der Hungerspiele abklappern werden. Manche von ihnen haben uns bereits letztes Jahr unterstützt, andere sind neu. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es gleich Zeit für ein Mittagessen wäre. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Haymitch wecken oder ihn lieber in Ruhe lassen soll. Letztendlich beschließe ich, ersteres zu tun.

An der Tür von Haymitch bleibe ich stehen und klopfe. Keine Reaktion. Also klopfe ich erneut, diesmal intensiver. „Haymitch?" Da endlich höre ich ein Murren aus seinem Schlafzimmer. „Es ist bereits gegen Mittag", versuche ich ihm zu erklären. „Ich dachte mir, dass du vielleicht etwas essen möchtest?" Irgendwie kommt es mir falsch vor, hier vor seiner Tür zu stehen und ihn zum Mittagessen zu bitten.

Figure It Out (Hayffie)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt