40.1. Leave The Comfort Zone

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„Er ist ein Idiot", sagt Johanna. Wie bei meinem letzten Besuch auch liegt sie in ihrem Krankenbett und betrachtet mich mit diesem typisch überheblichen Blick aus ihren kastanienbraunen Augen. Sie sieht nachdenklich aus, während sie sich die Worte auf der Zunge zergehen lässt und doch scheint sie zufrieden mit sich selbst zu sein, mal über jemand anders als die unerträglichen Krankenschwestern fluchen zu können. Die langen, dünnen Finger der Siegerin spielen mit dem Schlauch der Infusion, der in ihrem rechten Arm steckt.

Solange das Morphium in ihrem Körper ist, ist sie erträglich. Die meiste Zeit regt sie sich über alles und jeden in ihrer unmittelbaren Umgebung auf und selbst ich komme in ihren Tiraden nicht zu kurz, aber das ist mir lieber als der Zustand, wenn die Ärzte mal nicht schnell genug mit dem Schmerzmittel hinterherkommen. Johanna hatte schon immer eine wilde, unbändige Ader in sich. Sie war es, die sie in den Augen des Kapitols so unbeliebt gemacht hat. Jede auch nur so kurze Art des Entzugs lässt sie in eine heißblütige Furie verwandeln. Das fehlende Morphium wird dann durch einen unaufhaltsamen Zorn kompensiert, der sie schreien und beinahe schon besessen um sich schlagen lässt. Die Ärzte hätten es besser wissen müssen, als eine Frau mit solcher Vorgeschichte an den Schlauch anzuschließen. Nun ist es zu spät.

Ich seufze leise und rutsche auf Johannas Bett hin und her, während ich ihr dabei zuschaue, wie sie sich die Nadel mit geschickter Handhabung aus dem Arm zieht, um eine Essenspause einzulegen. Eine Schwester ist vor wenigen Minuten, wie so oft unangekündigt, in ihr Zimmer geplatzt und hat zwei Tabletts mit den vorgeschriebenen Essensrationen vor uns niedergelassen. Die Pfleger sind freundlich genug, auch wenn sie sowohl Johanna als auch mich oft mit einem etwas unschlüssigen Blick bedenken, als wären sie sich über unseren Geisteszustand nicht ganz sicher. Irgendwie kann ich es ihnen nicht verübeln.

Das überwältigende Gefühl, das ich in meiner Brust verspürt habe, als ich die Nadel zuletzt zwischen meinen Fingern hielt, ist seit meinem Gespräch mit Haymitch vollkommen verschwunden. Um ehrlich zu sein, ist mir seither die Lust nach allem vergangen. Obwohl ich versucht habe, mir einzureden, dass mir die Dinge, die er an dem Morgen vor meiner Zimmertür erzählt hat, nicht wichtig sind, nagen sie seither an mir. Seine Worte halten mich vom Schlafen ab und wenn ich es vor Erschöpfung doch schaffe, in die Dunkelheit abzugleiten, dann jagen seine Worte mir selbst in meinen Träumen nach. Seit meiner Regeneration haben sie sich zu einem Wirrwarr aus Bildern und Szenarien verwandelt, die wie ein komplizierteres Spinnennetz immer ineinander übergehen, wenn auch nie in derselben Reihenfolge. Mal schlägt mich jemand auf dem Boden einer Zelle zusammen, mal stehe ich Haymitch im Penthouse gegenüber, mal schießen sie meinen Eltern in den Kopf. Nur eine Sache ist sicher: Haymitchs flüsternde Worte im Hintergrund der bizarren, angsteinflößenden Szenen, die sich immer und immer wiederholen. Wie ein Lied, das nach seinem Schluss einfach wieder von vorne anfängt. Ein kleiner Teil meiner Selbst ist dankbar für die Ablenkung, die seine Geständnisse mir liefern. Meine Gesundheit, die davor mein eigentliches Problem war, rückt mit jedem Tag weiter fort von meiner Aufmerksamkeit.

„Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?", frage ich Johanna in skeptischem Ton, während meine Finger das Haartuch auf meinem Kopf neu zusammenknoten. Gestern war ich so erschöpft von einer unserer Auseinandersetzungen gewesen, dass ich keine Kraft hatte, in mein eigenes Zimmer zurückzukehren und so habe ich die Nacht zusammengesunken in dem unbequemen, grauen Plastikstuhl neben Johannas Bett verbracht. Nicht nur mein Nacken, den ich nach dem Aufwachen heute Morgen kaum hatte geraderichten können, hat sich negativ bemerkbar gemacht. Dabei ist genau das Haartuch der Grund für meinen fehlenden Schlaf.

Johanna findet es albern, dass ich mein Haar verdecke. Ihrer Meinung nach unterstreicht ihr Zustand den Kampf, den wir im Kapitol durchlebt haben. So wie sie ihren kahlrasierten Kopf als Mahnmal präsentiert, sollte ich es mit meinen Haaren tun. Johanna kann die Komplexe, die ich mit meinem Aussehen habe, nicht nachvollziehen. Und obwohl eine Frau wie sie das niemals auch nur im Ansatz verstehen könnte, hatte ich versucht, es ihr verständlich zu machen. Vergeblich. Meine Gegenargumentation war in nur kurzer Zeit in ein gegenseitiges Anbrüllen ausgeartet. Anscheinend waren wir so laut gewesen, dass es zwei Krankenschwestern für nötig gehalten hatten, in das Zimmer zu stürmen und damit zu drohen, mich von der Besucherliste zu streichen. Angeblich tat Johanna die Aufregung nicht gut, auch wenn wir beide da anderer Meinung waren. Man könnte denken, dass wir, nach allem was wir gemeinsam durchgemacht haben, nichts als Respekt und Wohlwollen füreinander übrighaben, aber dem ist nicht so. Manchmal erinnert mich unser Gezanke ein wenig an früher, an die Zeit der Hungerspiele, als wir beide schon oft genug aneinandergeraten waren. Und doch ist es anders: Heute brauchen wir diese Streitereien, diesen Stress um etwas Banales, weil es uns von der Realität ablenkt, auch wenn es nur für wenige Momente ist. Aber ein Besuchsverbot kommt für keinen von uns in Frage. Wenn Haymitch und ich nicht zusammen sind, dann verbringe ich jede freie Minute bei Johanna. Es fühlt sich nur natürlich und richtig an, hier an ihrer Seite zu sein.

Figure It Out (Hayffie)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt