40.2. Leave The Comfort Zone

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Haymitch nickt, wirft einen kurzen Blick über seine linke Schulter und bewegt sich dann zur Seite, um mir die Sicht auf den Eingang zu nehmen. Er vergräbt beide Hände in seinen Hosentaschen und lehnt sich etwas zu mir herüber. Seine blonden Haare fallen ihm leicht über die Stirn und meine Hand zuckt in dem Bedürfnis, sie aus seinem Gesicht zu streichen. „Du sagst, wenn es dir zu viel wird und wir sind sofort raus da", erwidert er leise und wartet auf mein Okay.

„In Ordnung." Ein angestrengtes Seufzen entfährt meiner Kehle und ich muss für einen Moment die Augen schließen, um mich auf meine Füße zu fokussieren und sie dazu zu zwingen, sich wieder in Bewegung zu setzen.

Haymitch passt sich meinem Schritttempo an, während wir auf die Kantine zugehen. „Und wie geht's Johanna?" Die Nervosität ist seinem üblichen Grinsen gewichen, aber ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob er mir diese plötzliche Gelassenheit nur vorspielt, um mich abzulenken.

Absicht oder nicht, ich beiße an. „Sie ist ihr strahlendes Selbst", sage ich und verdrehe die Augen. Weder Johanna noch ich haben mit irgendwem über die Details unserer Zeit in Gefangenschaft gesprochen. Natürlich können sich die Ärzte anhand unserer Befunde einiges zusammenreimen, was sie sicher auch Haymitch mitgeteilt haben, aber direkt darüber geredet haben wir bisher nicht. Ich weiß nicht, ob ich es könnte. Zu meinem Glück stellt er bisher keine Fragen. Früher oder später, wenn diese dunkle Phase länger hinter mir liegt, wird sich das sicherlich ändern. Doch für den Moment scheint er mehr oder weniger zufrieden zu sein. Er weiß genug; auch um die unerwartete Beziehung zwischen Johanna und mir zu verstehen. 

„Na dann bin ich ja beruhigt", murmelt er und schüttelt den Kopf. Wir betreten die Kantine und mit einem Mal schaffe ich es nicht, meine Augen von Haymitch abzuwenden. Er müsste sich wieder mal rasieren, die Stoppeln seines Barts sind viel zu lang geworden. Außerdem sieht er erschöpft aus, seine Meetings im Kontrollzentrum sind wohl nicht so gut gelaufen.

„Effie?" Seine sanfte Stimme holt mich zurück in die Gegenwart und ich zucke zusammen. Mein Blick liegt immer noch auf seinem Gesicht, nur dass er jetzt wieder direkt neben mir steht und mich mit einer Sorge mustert, die er fast schon krampfhaft hinter einem weiteren Grinsen zu verstecken versucht. Ich tue so, als wäre es mir nicht aufgefallen. Es ist einfacher, so zu tun, als würden mir die Gefühle nicht auffallen, die von ihm ausgehen. Früher reichte nur die kleinste Reaktion meinerseits, um seine Wände komplett hochzufahren. Heute gibt er sich Mühe, diese untenzulassen und ich weiß, dass es ihm schwerfällt. Sein ganzes Leben hat er seine Emotionen vor der Öffentlichkeit versteckt.

Erst jetzt schaue ich mich in der Halle um. Oder doch nur ein Raum? Ich habe sie mir viel größer vorgestellt. Die Kantine hat vielleicht die dreifache Größe von unserer Mensa in der Krankenstation. Ansonsten ist alles identisch, von den Tischen, bis zu dem Ort der Essensausgabe oder der Beleuchtung. Erst im zweiten Atemzug fallen mir mehrere offene Türen auf, die wohl in weitere Speiseräume führen müssen. Es ist tatsächlich klug gelöst, fällt es einem Teil meines Ichs ein, das mal vor vielen Jahren Interesse an Architektur gehabt hat. Weniger Lärm, weniger Gedränge, weniger Zeit die man hier verbringt.

„Hm?" Wir stehen in der Schlange, die sich vor der Essensausgabe gebildet hat. Die ersten Leute, die mit ihren Tabletts an uns vorbeilaufen, werfen mir seltsame Blicke zu, aber bisher erkennen sie nur Haymitch. Dann kann meine Anwesenheit in 13 noch nicht die große Runde gemacht haben.

„Du musst gleich deinen Arm unter den Scanner halten, damit die Leute wissen, wie viel sie dir geben sollen", flüstert Haymitch an meinem Ohr, damit niemand um uns herum von meiner fehlenden Kenntnis ihres Systems mitbekommt. Er scheint die Wahrheit genauso sehr hinauszögern zu wollen wie ich.

Ich nicke nur und trotte vor ihm her, während der Abstand zur Ausgabe immer kleiner wird und riskiere einen Seitenblick durch die Kantine. Desto länger wir uns in ihrer Mitte befinden, desto mehr Menschen bemerken Haymitch. Noch ist keine Abneigung in ihren Augen zu erkennen, die sich nun vermehrt auf ihn richten. Und von ihm zu mir. Obwohl ich nirgends Erkenntnis aufblitzen sehe, kann ich ihre Ratlosigkeit über mein Haartuch sehen. Für Leute, die unter starrer Autorität leben, muss mein Abschweifen von der Norm wie ein Fehler aussehen. Jemand, der sich nicht gänzlich an den Distrikt anpassen kann oder will. Den Gedanken scheinen einige nicht zu mögen, denn die ersten verziehen irritiert ihr Gesicht.

Figure It Out (Hayffie)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt