Kapitel 87

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Nachdem ich heute einmal bei dem Italiener anrufen durfte, wo sich Baptiste das letzte Mal drüber beschwert hatte, dass keiner ihn versteht, kann ich nun sagen, dass es nicht an ihm lag, sondern an denen, die dort arbeiten. Auch ich hatte echt meine Probleme, aber am Ende kam doch auch das an, was wir bestellt hatten und das nächste Mal drücke ich meiner Freundin das Handy in die Hand, damit sie auch einmal so leiden kann, wie ihr Bruder und ich jetzt. Vom Dachboden hatte July in der Zeit eine alte Decke gesucht, die sie mit rausgenommen und auf den Rasen ausgebreitet hatte, sodass wir dort Platz nehmen konnten, nachdem das Essen da war und nachdem wir uns wieder einen Wein mitgenommen haben.

Nach zwei Gläsern war ich bereits durch, habe es neben mir abgestellt und danach lieber ein Auge auf July geworfen, die wieder etwas in ihren Emotionen versunken ist. Ihren Blick lässt sie wieder in ihr Glas schweifen, wo nur noch ein letzter Rest drinnen ist, ich schaue in den Nachthimmel, beobachte kurz die Sterne, bis sie ihren Kopf kurz auf meiner Schulter ablegt und daher meine Aufmerksamkeit wieder zu sich zieht.
Juliette: Deine Maman ist wirklich süß."
Chris: So war sie immer schon. Wollte für uns alle nur das Beste, war immer für uns da und hat alles getan, damit es uns gut geht."
Wann immer sie getrunken hat und das Thema ihrer Familie aufkam, war sie in meinen Augen sehr unberechenbar, da sie nur noch von ihren Emotionen blind gelenkt wurde. Sie hatte mich angeschrien, komplett ehrlich gesprochen und auch wenn ich niemals Angst vor ihr gehabt habe, es war das komplette Gegenteil von dem, was sie mir jetzt zeigt. Sie ist deutlich drüber, aber so ruhig und bedacht, viel mehr in sich gekehrt als sonst.
Juliette: Ich glaube, dass ich innerlich immer die Hoffnung hatte, dass es nochmal wieder gut werden würde. Das kleine Kind in mir hatte es sich gewünscht."
Auch wenn sie mir gerade keinen Blick schenkt, ich senke meinen eigene, schaue zu ihr rüber und bin im Stillen für sie da und der Halt, den sie vielleicht braucht.
Juliette: Aber ich glaube, dass ich verstehen muss, dass nach 20 Jahren nichts mehr kommen wird und es niemals gekommen ist. Und ich glaube, dass es auch besser so ist."

July setzt sich leicht auf, schließt einen Moment ihre Augen und schaut anschließend wieder in ihr Glas. Dabei will sie nichts mehr davon trinken, betrachtet nur still die rote Flüssigkeit darin, die man kaum mehr richtig erkennen kann.
Juliette: Ich wünschte, ich hätte die Nummer zu meinem jüngeren Ich."
Chris: Was würdest du ihr sagen?"
Ich merke, dass ich mich wirklich auf dünnen Eis bewege und dass jede Frage, die ich stelle, die eine zu viel sein kann. Dass ihre Stimmung an und für sich noch kippen kann und dass das ein Spiel mit dem Feuer ist, aber bedacht hebt sie ihren Kopf, schaut rauf in den Himmel und seufzt einmal leicht.
Juliette: Dass alles gut werden wird. Manchmal wünsche ich mir, dass ich nicht mit dem Trinken angefangen hätte, dass ich nicht an Drogen geraten wäre oder mit diesem viel zu alten Typen was angefangen hätte. Dass ich in Hamburg nicht gleich in die toxische Beziehung mit meinem Arschloch-Ex geraten wäre."
Ich halte mir eine Hand vor dem Mund, um nicht lachen zu müssen, aber in diesen Zustand ist sie immer schonungslos ehrlich, nimmt kein Blatt vor dem Mund.
Juliette: Aber vielleicht wäre ich dann nicht hier gelandet...hätte dich nie getroffen."
Meinen Blick richte ich zu ihr, bleibe still und habe trotzdem ein schwaches Lächeln auf den Lippen. Auch wenn sie mir immer wieder sagt, was ihr an uns liegt, das hier ist anders.
Juliette: Dann hätte diese Rastlosigkeit niemals aufgehört, weil ich hier endlich ein zu Hause gefunden habe. Mit all dem, was du für mich einfach nur so gemacht hast, hast du ein Teil meines zerbrochenes Ichs genommen und es wieder zusammengepuzzelt. Dann hätte ich hier nicht meine richtige Familie getroffen."

Ich lege einen Arm um sie, drücke July vorsichtig gegen mich und lege meinen Kopf auf ihren ab, wobei ich ihr vorher noch einen Kuss aufs Haar gegeben habe. Vielleicht erinnert sie sich morgen nicht mehr daran, dass sie das jetzt gesagt hat, aber ich weiß es. Und ich weiß, dass sie gerade die Wahrheit ausspricht, die tief in ihr liegt und die sie einem nicht an einen beliebigen Tag einfach so ausspricht.

Langsam lasse ich sie wieder frei, gehe mit meiner Hand über ihren Rücken und fixiere sie mit meinen Blicken, wobei sie selbst immer wieder in ihr Glas mit dem Rest vom Wein schaut, es hin und her schwenken lässt und nicht zu mir aufschaut.
Juliette: Ich glaube, dass ich langsam anfange zu heilen und alles, was in Frankreich war, hinter mir lassen kann. Ich merke, dass ich liebenswürdig bin, dass ich anderen wichtig sein kann und dass ich so okay bin, wie ich bin. Es lag immer an den anderen."
Chris: Du warst niemals das Problem, Bambi."
Sobald ich sie einmal bei diesen Namen genannt habe, hat sie wieder das Grinsen auf den Lippen, was ich zu gerne bei ihr sehe. Verlegen und glücklich, wäre es nicht so dunkel, würde ich vielleicht auch erkennen können, dass sie leicht rot wird.
Juliette: Baptiste hatte immer gehofft, dass ich mal einen Mann finde, der mir ein richtiges zu Hause gibt. Zu Beginn hätte er wohl gehofft, dass nicht du es bist, aber mittlerweile denke ich, dass er in dir das sieht, was ich auch sehe."
Das erste Mal schaut sie mich mit ihren dunklen Augen, die in diesem Licht schwarz wirken an, und bringt mich vollkommen zum Schweigen, selbst das Atmen wäre zu laut.
Juliette: Jemanden, den ich niemals mehr verlieren will. Und damit meine ich niemals. Ich liebe dich, Chrissy..."
Als würden ihre Worte nicht gerade eine Welle an Emotionen in mir hervorrufen, legt sie ihren Kopf wieder auf meine Schulter und schaut wieder in den Nachthimmel.

Meinen Arm lege ich um sie, gehe mit meiner Hand wieder über ihren Rücken und schaue in den Moment auf, als eine Sternschnuppe vorbeizieht. Daher sehe ich July wieder an, was sie auch mitbekommt und sie hat das eben auch mitbekommen.
Juliette: Mit meinem Bruder zusammen saß ich früher oft in einem Park in Straßburg. Wegen mir ist er dahin gelaufen, weil ich den Nachthimmel liebe. Die abertausenden kleinen Lichter, die mich immer wieder verzaubern konnten."
Etwas betrübt senkt sie nun ihren Kopf wieder, schaut auf ihre Beine und Hände runter, ebenso auf ihr Glas Wein, was sie jetzt erstmals wieder etwas anhebt, aber nichts trinkt.
Juliette: Baptiste hatte mir immer gesagt, dass wir uns irgendwann mal die Polarlichter ansehen werden...aber dazu sind wir nie gekommen."
Chris: Warum nicht?"
Zwar zuckt sie mit den Schultern, aber ihr Blick verrät mir, dass dahinter mehr steckt und dass sie auch selbst weiß, warum es so gewesen ist, aber das gefällt ihr nicht.
Juliette: Das Leben kam uns dazwischen, meine schwere Zeit...mein anstrengendes und verletztes Teenager-Ich, was alles zerstört hatte..."
Bevor sie jetzt ihr Glas austrinken könnte, greife ich nach ihrer Hand und nach dem Glas, was ich mich vorher noch nie getraut hatte. Aber ich denke, dass jetzt der Moment gekommen ist, wo auch sie es verstehen kann.
Chris: Bitte trink nichts mehr, du hast genug gehabt."
Und ohne jegliche Diskussion lässt sie das Glas auch los und übergibt es mir.
Juliette: Du hast recht..."

Trotzdem hatte ich am Ende dieses Abends wieder eine betrunkene July in den Armen, die ich die Treppe des Hauses ins Schlafzimmer hochtragen durfte, damit wir uns fürs Schlafen fertig machen konnten. Ob sie sich am Morgen noch an alles erinnert, kann ich nicht einschätzen, aber niemals im Leben würde ich vergessen, was sie mir gesagt hat. Es ist für immer ein Teil von mir. Genauso, wie sie selbst...

Never Less Than a LoverWo Geschichten leben. Entdecke jetzt