Kapitel 35

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Am Morgen konnte Chris sich an nichts erinnern, was in der Nacht passiert ist, er hatte es zu keinem Zeitpunkt bemerkt. Für ihn war das eine der ruhigsten und entspanntesten Nächte seit Tagen. Als er nachgefragt hatte, was denn los gewesen ist, habe ich es ihm nicht weiter gesagt. Ich will ihn nicht mehr stressen, als er es sowieso schon ist.

Auch wenn ich vorgeschlagen hatte, dass wir nach Bielefeld fahren, Chris war am Tag der, der uns sagen konnte, wo wir was finden und wo wir zum Mittag gut Essengehen konnten. Entgegen dem, dass Baptiste am Tag zuvor beim Skat wetten musste, hatte Chris unser Essen bezahlt. »Wenn ich Besuch habe, ist es für mich selbstverständlich, dass ich mich um ihn kümmere. Egal, ob er darum wetten musste« und mein Bruder meinte, dass er es zu Ostern wieder gut machen würde. An den Tag hatten wir nämlich beschlossen, dass wir kurz vor Ostern nach Lyon fahren und meinen Bruder besuchen werden. Zu Ostern wollte Chris wieder zu Hause sei, aber genauere Termine werden wir nochmal absprechen. Den Nachmittag und Abend waren wir also noch in der Stadt und am Abend sind wir drei wieder zu mir nach Hause gefahren. Ohne, dass man ihn dieses Mal überreden musste, blieb auch Chris wieder bei uns und bei mir in der Nacht. Der letzte Abend war nichts Besonderes, wir haben Chris einmal die Regeln von L'âge de pierre erklärt und ein paar Runden gespielt, ein paar Themen angesprochen und sind zeitig schlafen gegangen. Das letzte Frühstück zusammen verlief ruhig, Baptiste packte seine letzten Sachen und schrieb seiner Frau, als wir uns auf den Weg nach Osnabrück machten. Dieses Mal sind die Züge auch pünktlich und wir hoffen, dass der Flug auch gut gehen wird.

Wieder stehen wir am Gleis vier, wieder dieser seltsame Bahnhof und neben uns steht auch schon die Bahn nach Düsseldorf, die bald abfahren wird. Baptiste schreibt noch eine letzte Nachricht, ich schaue zu Chris hin, der dieses Mal nicht abwesend neben uns steht und sich in der Gegend umschaut. Dieses Mal lächelt er mich leicht an, wirkt entspannter und das beruhigt auch mich massiv.
Baptiste: So, ich habe Florence Bescheid gegeben und ich sollte in den Zug."
Juliette: Ansonsten fährt er noch ohne dich ab."
Darüber kann er nur milde lachen. Vermutlich könnte er sich einiges besseres vorstellen, als wieder Bahnfahren zu müssen, aber dafür ist er heute Abend wieder zu Hause und bei seiner Familie. Bevor er seine Sachen nehmen und in den Zug steigen würde, kommt er nochmal zu mir und nimmt mir noch ein letztes Mal in Arm.
Baptiste: Prends soin de toi, bonne chance et tiens-nous au courant."
Ich drücke ihn nur etwas fester, nicke leicht, bevor wir einander auch wieder loslassen. Danach nimmt mein Bruder seine Tasche und schaut zu Chris hin. Zuerst wirkt sein Blick noch sehr distanziert, bis Baptiste etwas lachen und lächeln muss.
Baptiste: Pass gut auf meine kleine Schwester auf."
Juliette: Das kann ich auch allein."
Baptiste: Aveuglé par l'amour."
Mit einem roten Gesicht schaue ich von ihm weg, bemerke das Lachen von Chris, der zu meinem Bruder nochmal nickt, worauf beide sich noch verabschieden, damit mein Bruder danach in den Zug steigen kann, der wenige Minuten später auch abfährt.

Leicht betrübt schaue ich der Bahn und meinem Bruder nach und werde von Chris wieder in die Realität geholt, als er einen Arm um mich legt, sodass ich zu ihm schaue. Anschließend fragt er mich, ob wir langsam los wollen, immerhin hatten wir beide auch vor, mal wieder in die Halle zu schauen. Er muss da sowieso wieder etwas mit Andreas besprechen und ich will ein paar Dinge aus dem Büro von mir holen. Also stimme ich zu, schaue noch einmal die Strecke rauf, bevor ich mich zum Gehen überreden kann.

Wieder in Bünde angekommen, stelle ich mein Auto auf meinem Hof gleich ab, die paar Meter können wir zu Fuß hinter uns bringen und ob Chris am Abend wieder mitkommt, weiß ich gar nicht. Während dem kurzen Weg komme ich auch gar nicht auf die Idee, dass ich das hätte fragen können und als wir bei der Halle ankommen, habe ich sowieso gleich ein komplett anderes Problem vor mir stehen. Levi.
Kyra: Hey, bist du auch wieder hier?"
Von weiten hatte mich Kyra schon bemerkt. Sie lächelt mich an, ich erzwinge es mir, weil sich gleich danach auch Levi umgedreht hatte und ihre gute Laune verfliegt genau in den Moment, wo sie neben mir auch Chris erblickt hat. Okay, es liegt an ihm. 100%!
Chris: Wolltest du später rauf kommen?"
Juliette: Ich gucke mal."
Ohne ihn nochmal anzusehen, mich ordentlich zu verabschieden, gehe ich zu den beiden hin und ich hoffe einfach Mal, dass Chris das verstehen kann. Da er danach nichts sagt, sich nicht beschwert oder sonst etwas macht, sondern einfach geht, denke ich, dass alles gut zwischen uns ist. Während ich auf die beiden zugehe, lächle ich ganz vorsichtig, bekomme aber die Blicke von Levi mit. Wie ich es hasse, wenn sie mich so mustert.
Levi: Wie waren die freien Tage mit dem Chef?"
Juliette: Mein Bruder war zu Besuch, daher war ich nicht da."
Kyra schaut zwischen uns beiden immer wieder hin und her. Scheinbar merkt man uns gleich an, dass etwas nicht stimmt. Dass zwischen uns ein Problem herrscht.

Trotzdem versuche ich mich nicht von der Arbeit ablenken zu lassen. Ich atme durch, setze wieder ein Lächeln auf und schaue auf die Arbeiten von Kyra. In den letzten Tagen hatte sie viel am Mischpult gearbeitet, ein paar Sachen ausprobiert.
Juliette: Läuft bei dir soweit alles?"
Kyra: Alles kein Problem. Du hattest mir ja eine gute Liste geschickt, wo einmal alles erklärt wurde und mit den Aufgaben aus der Schule komme ich auch gut klar. Danke nochmal, dass du da am Abend noch geantwortet hattest."
Juliette: Immer wieder. Wenn was ist, dann gibt einfach Bescheid."
Dankend lächelt sie mich an, bevor wir beide unseren Blick zu Levi wandern lassen. So passiv, wie in den Moment, saß sie noch nie vor ihren Sachen. Selbst der Blick von Kyra wirkt besorgt. Die meiste Zeit arbeitet sie immer bei uns im FOH und bei dem, dass wir beide nicht mal mehr richtig arbeiten, fühlt sie sich auch nicht sicher.
Juliette: Wie laufen die Vorbereitungen, Levi?"
Levi: Okay. Der Chef schickt wenig in letzter Zeit rum und daher komme ich auch nur schleppend voran. Dabei ist in drei Wochen schon die Show."
Auch wenn sie ihren Kopf nicht in meine Richtung dreht, ihren Blick von der Seite bekomme ich halbwegs wieder mit und halte ihm kaum Stand.
Levi: Scheinbar ist ihm etwas anderes wichtiger."
Vor ein paar Monaten warst du froh, dass es so gewesen ist! Dass er sich für etwas anderes Zeit nimmt, außer für die Arbeit! Und jetzt, wo er sich für mich Zeit nimmt, ist das wieder ein Problem! Wenn du mir noch verklickern willst, dass es nicht um ihn geht, spar dir diese Lüge! Levi ist meine beste Freundin, doch ich habe das Gefühl, dass ich sie gerade nicht mehr wiedererkennen kann. Sie versteckt sich hinter einer Lüge, die uns zerstört.

Die ganze Zeit kann ich meinen Blick nicht mehr von Levi abwenden und auch wenn sie das merkt, sie ignoriert mich permanent. Dabei arbeitet sie nicht mal irgendwas, scrollt durch irgendwelche Bibliotheken an Sounds und will einzig von sich ablenken.
Kyra: Ich gehe...hol mal eben...bin kurz..."
Sie zeigt einzig zu den Büros, wird vermutlich zu einem anderen Meister gehen und lässt uns beide vor allem hier allein zurück. Wäre Kyra nicht von allein gegangen, dann hätte ich sie gleich darum gebeten. Schüchtern tritt sie ein paar Schritte zurück, bis sie sich von der Szene komplett entfernt.
Juliette: Was ist bitte los mit dir?"
Levi: Was soll denn los sein?"
Nicht die Nerven verlieren, Juliette. Sie ist es nicht wert.
Juliette: Ich habe dir vor Tagen geschrieben und du antwortest mir nicht. Ich hatte gefragt, ob wir beide miteinander reden können."
Levi: Ich bin doch hier, was willst du?"
Wie ich ihre herablassende Art doch hasse! Dass sie keinen Blick zu mir richtet, einzig durch diese dämlichen Seiten scrollt und so tut, als wäre nichts los. Dass sie so tut, als wäre ich das Problem an der Sache und ich reagiere hier über.
Juliette: Du hattest mich nach der Firmenfeier draußen stehenlassen mit den Worten »das würdest du nicht verstehen, Juliette«. Ich will das von dir wissen. Was ist los mit dir?"
Levi: Rein...gar...nichts..."

Bevor ich mich selbst stoppen und beruhigen könnte, greife ich mit der Hand nach der Lehne ihres Stuhls und drehe sie somit endlich in meine Richtung, damit Levi mich anschauen muss.
Juliette: Willst du mich verarschen!?"
Levi: Was ist bitte dein Problem!?"
Meinen Arm schlägt sie von sich weg, steht im nächsten Moment von ihrem Platz auf und schaut mich aufgebracht an. Ich schaue leicht zu ihr auf, könnte ihr gefühlt den Hals umdrehen, dass sie das Problem an sich nicht sieht und spanne meine Hände am Ende doch nur zu Fäusten.
Juliette: Du! Du lässt mich nach der Feier einfach an Ort und Stelle stehen, ich will mit dir reden, du ignorierst mich und tust jetzt so, als wäre rein gar nichts los! Außer, dass du immer herablassende Kommentare abgibst! Ich verstehe dich nicht!"
Levi: Lass mich doch einfach in Ruhe, Juliette! Du würdest es sowieso nicht verstehen..."
Von der Seite des Tisches will sie nach ihrer Tasche greifen, um die Halle zu verlassen oder zumindest in ihr Büro zu gehen. Bevor sie das machen kann, greife ich selbst nach dieser, damit sie nicht wieder wegläuft, wie zuvor.
Levi: Gib mir das wieder!"
Juliette: Du sollst mir sagen, was los ist! Du bist meine beste Freundin Levi, aber so verhältst du dich überhaupt nicht mehr..."
Und als hätte ich mit den Satz das Problem am Schopf gepackt, schaut sie mich danach ruhig und verletzt an. Was habe ich jetzt wieder getan...

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