{21. Kapitel}

5.3K 538 76
                                    

„Bitte lass mich nicht alleine mit meinen Gedanken. Sobald ich alleine bin, kann ich an nichts anderes mehr denken, als an den Fall und die Tatsache, dass der Typ immer noch frei herumläuft." Ich biss meine Zähne zusammen, bis ich sie knirschen hören konnte.

Harry schien kurz zu überlegen, richtete sich jedoch auf und zog mich mit sich. „Okay, dann werde ich so gut wie möglich deine Ablenkung sein." Der Lockenkopf setzte sich auf den Boden, mit dem Rücken gegen die Glasscheibe gelehnt und die langen Beine ausgestreckt. Er deutete mir, dasselbe auf der anderen Seite zu tun.

So saßen wir uns nun gegenüber. Mein rechtes Bein lag dicht an dicht zu Harrys. Ich spürte, wie seine immense Wärme auf mich überging.

„Also, worüber möchtest du sprechen?" Harry schenkte mir ein liebliches Lächeln.

Ich überlegte kurz. „Über dich", antwortete ich schlussendlich.

„Nun, das ist eine ziemlich schlechte Wahl. Ich kenne nichts anderes, als das hier." Er breitete seine Arme zur Seite hin aus.

„Stimmt es, dass du erst 27 bist?", platze es ohne jegliche Zurückhaltung aus mir heraus.

Seine Mimik wurde etwas ernster, dennoch ging diese Leichtigkeit nicht zur Gänze verloren. „26.... Nein warte. Welchen Monat haben wir?"

„Mai."

„Oh", er presste seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. „Ja, dann bin ich schon 27."

Meine Miene erstarrte für einen kurzen Augenblick zu einer ausdruckslosen Maske. „Wann hast du denn Geburtstag?"

Harry öffnete seinen Mund einen Spalt, aber zu anfangs waren keine Worte zu hören. Er überlegte. „Ähm Februar. Ja... Erster Februar." Harry ließ seinen Kopf sinken und sah mich nicht weiter an.

Erst als seine Fassade zu bröckeln begann, erkannte ich, dass da überhaupt eine war.

In dieser Sekunde war Harry kein manipulativer Psychopath, er war jemand, der dabei war zu vergessen, an welchem Tag er überhaupt Geburtstag hatte. Nicht einmal an diesem Tag schien es jemanden zu geben, der sich selbst dazu aufraffen konnte, zu ihm zu gehen.

Ohne es zu wollen, stellte ich mir ein Szenario vor, dass mir die Luft zum Atmen nahm. Harry saß alleine in seiner Zelle und wartete. Er wartete voller Hoffnung darauf, dass ihn jemand besuchen kommen würde. Doch es kam niemand. Nicht in diesem Jahr und auch nicht im nächsten. Langsam schwanden seine Hoffnungen. In seinem Herzen wurde es Nacht.

Sein Verstand hielt es für besser, ihm die Erinnerung an Geburtstage langsam, aber sicher vollständig zu nehmen.

Harrys melodische Stimme drang an mein Ohr und stoppte so den Film, der sich in meinem Kopf abspielte. „Liegt eigentlich noch Schnee?"

„Nein. Um diese Jahreszeit liegt meistens kein Schnee mehr", erwiderte ich, immer noch leicht in Gedanken.

Seine Augen befreiten sich aus meinem Blick. Er sah in der Zelle umher. Verhalten nickte er.

„Harry, wann wurdest du das letzte Mal besucht?"

„Letztes Jahr an Weihnachten." Seine Mundwinkel zuckten wieder nach oben, aber diesmal war es anders. Das Lächeln erreichte seine Augen nicht.

Ich sah auf meine Hände, die in meinem Schoß lagen. „Das hier ist so surreal." Ich brauchte nicht aufzusehen, ich fühlte auch so Harrys Blick auf mir. „Ich muss doch dein größter Feind sein. Ich bin ein Cop und ein Cop hat dich hier rein gebracht."

Harry lehnte sich leicht nach vorne. „Nein. Meine Entscheidungen und meine Taten haben mich hier rein gebracht. Und außerdem waren es 17 Cops, 4 Polizeihunde und ein Elektroschocker."

Als ich meinen Kopf wieder anhob, sah ich direkt in Harrys lächelndes Gesicht. Ich wusste nicht, ob das ein Witz sein sollte, oder ob es wohl wirklich der Wahrheit entsprach. Aber eines wusste ich, ich durfte es mir nicht bildlich vorstellen. „Ich.. Ich weiß immer noch nicht, warum du eigentlich hier bist."

Augenblicklich erstarb Harrys Lächeln. „Wenn du willst, dann sage ich es dir... Aber es wird keinen Weg zurück geben."

So viele Gedanken rauschten durch meinen Kopf, aber nur einer war klar genug, dass ich ihn in Worte kleiden konnte. „Nein. Ich möchte es nicht wissen. Zumindest jetzt noch nicht. Ich habe mir mittlerweile ein Bild von dir gemacht und... Auch wenn das jetzt dumm klingen mag, aber du bist momentan die einzige Person, die mich auf den Beinen hält." Harrys Blick war, während ich sprach, in die Ferne geglitten. Erinnerungen schienen vor seinem geistigen Auge aufzutauchen.

„Was erwartet mich, wenn du es mir sagst?" fragte ich zögernd. Er saß direkt vor mir und dennoch wirkte er so unheimlich weit weg.

Harrys Stimme war leise und brüchig. „Würden sie dir oben die Waffe nicht abnehmen, dann würdest du mich sofort und auf der Stelle erschießen. Du wirst es hassen. Und viel schlimmer... du wirst mich hassen. Du wirst alles was ich je zu dir gesagt habe in Frage stellen." Nun suchten seine Augen wieder meine. Das Grün schimmerte plötzlich kristallklar. „Aber Louis, bitte frage mich nicht, ob ich es verhindern würde, wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte...Die Antwort würde dir nicht gefallen."

Ich musste schlucken. Vorsichtig rutschte ich näher an ihn heran. „Ich glaube nicht, dass du ein schlechter Mensch bist. Der Teufel ist auch nur ein gefallener Engel." Ich streckte meine Hand aus und legte sie vorsichtig auf seinem Oberkörper ab. Ich fühlte seinen leicht beschleunigten Herzschlag. „Wir müssen deinen inneren Engel nur wieder an die Oberfläche bringen."

Harry ließ sein Haupt nach unten sinken und sah auf meine Hand. Sein verträumtes Lächeln erwärmte mein Herz. Kaum spürbar strich sein Daumen über meinen Handrücken.

All die schrecklichen Ereignisse der vergangen Tage wurden nur durch diesen einen Moment, aus meinen Gedanken verbannt. All die Freude und Liebe die mir genommen wurde, hatte mir Harry wieder eingehaucht. Ich sah endlich nicht mehr nur schwarz und weiß.

Schachmatt || LarryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt