{46. Kapitel}

5.2K 526 72
                                    

Es war ein Kuss, der alles veränderte.

Dunkelheit wurde von Licht durchflutet.

Furcht wurde zur Neugierde.

Logik unterlag fortan der Leidenschaft.

Langsam verließen Harrys Lippen wieder die meinen. Aber zu meiner Verwunderung, hinterließen sie nicht dieses Gefühl von Leere. Stattdessen loderte dieses Feuer, das der Lockenkopf in mir entflammt hatte, unaufhörlich weiter. Ich brannte drauf, ihn wieder so nah bei mir zu fühlen. Ich wollte ihn spüren. Ich wollte ihn küssen. Immer und immer wieder, als gebe es kein Morgen.

„Ich weiß nicht, was ich unglaubwürdiger finde...", raunte mir Harry in mein Ohr. „...die Tatsache, dass ich gerade in Freiheit stehe oder, dass ich dich tatsächlich endlich küssen durfte."

„Endlich? Hattest du das etwa schon länger vor?" fragte ich ihn verwundert.

Ich hörte das verschmitzte Lächeln in seiner Stimme, als er sprach. „Schon seit Tag 1 konnte ich an nichts anderes mehr denken, als an das." Vorsichtig strich er mit seinem Daumen über meine Unterlippe, während er sich über seine leckte. Selbst in Freiheit war Harrys Präsent von Dominanz gekennzeichnet.

Alles schien so leicht und unkompliziert.

Doch diese Leichtigkeit wurde ausgelöscht, als Harry von mir wissen wollte, wie es denn jetzt weiter ginge. Mit dieser Frage musste ich mir ernüchternd eingestehen, dass ich darüber noch keinen einzigen Gedanken verschwendet hatte.

Mir war klar, dass Harry mit zu mir in meine Wohnung kommen würde. Aber wie wir dorthin gelangen sollten, darüber hatte ich nicht nachgedacht. Ich war nicht selbst hier her gefahren. Wir brauchten also ein Taxi, wenn wir vor Einbruch der Dunkelheit noch zu Hause ankommen wollten. Aber ein Taxi bedeutete auch, dass Harry bereits nach nur wenigen Minuten in Freiheit schon auf die erste für ihn unbekannte Person treffen würde. Und ich wusste nicht, wie er wohl darauf reagieren würde. Außerhalb des Luminals war Harry für mich noch unberechenbarer, als er es bereits innerhalb der sicheren Mauern der Anstalt war.

Den Kampf, den meine unterschiedlichen Gedanken austrugen, schien an dem Grünäugigen nicht vorbei geglitten zu sein. Er legte seinen Kopf schief.

Harry wusste ganz genau welche Wege meine Gedanken gegangen waren. Jedes noch so gute Pokerface würde unter seinem Blick fallen. Man war ihm einfach ausgeliefert. Ob man wollte oder nicht, wenn man vor ihm stand, ließ man eben mal mental die Hosen herunter.

Doch all meine anfänglichen Sorgen lösten sich als Nichtigkeit auf. Denn während der Zeit, die wir damit verbrachten auf das Taxi zu warten, blieb Harry tiefen entspannt. Sein Körper spiegelte kein bisschen Angst und auch kein Unwohlsein. Er hielt seine Augen wieder geschlossen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.

Die Anstalt war abgelegen und dementsprechend ruhig. Weshalb ich bereits von der Ferne das Abrollgeräusch der Reifen eines nahenden Fahrzeuges hörte. Wenige Sekunden später tauchte in meinem Sichtfeld das auf, was mein Gehörsinn bereits vorhergesagt hatte. Das Taxi.

Ich sah wieder zu Harry, doch dessen konzentrierter Blick lag bereits auf dem Wagen, der nun vor uns hielt. Ich atmete tief durch.

Mit verkrampften Magen öffnete ich die Wagentür und stieg ein. Ich rechnete damit, dass Harry es vielleicht nicht wagen würde, das Innere des Taxis zu betreten. Aber der Lockenkopf schien keinerlei Probleme zu haben und saß nur wenige Augenblicke später neben mir auf der Rückbank.

Harrys Reize schienen von allen Seiten überflutet zu werden, weshalb er den Fahrer nicht sonderlich wahrzunehmen schien. Stattdessen ruhte sein Kopf auf der Kopfstütze. Sein Blick war aus dem kleinen Fenster gerichtet. Nicht mal für eine Sekunde wandte Harry sich ab. Seine grünen Augen huschten wild umher. Sie schienen den Versuch zu unternehmen, alles einzufangen, was an uns vorüberzog. Ein sanftes Lächeln lag auf seinen Lippen, welches sich auf meine übertrug, als ich ihn stumm beobachtete.

Mit den Bäumen, zog auch die Zeit an uns vorüber. Und so kam es, dass der Fahrer auch schon vor meiner Wohnung hielt. Ich steckte ihm ein paar Scheine zu und wir verließen den Wagen.

Harry war die gesamte Fahrt über ungewöhnlich still und das änderte sich auch dann nicht, als wir das Treppenhaus betraten. Ich wusste nicht, ob er in diesem Moment seine Entscheidung bereits wieder bereute oder ob er lediglich die neu gewonnen Eindrücke auf sich wirken ließ.

Der Lockenkopf sah mir dabei zu, wie ich nach meinem Schlüssel kramte, um anschließend damit die Verriegelung der Wohnungstür zu lösen. „Ich hoffe, das hier ist als erste Unterkunft nach deiner Gefangenschaft ausreichend", sagte ich, mehr zu mir selbst, als zu ihm, während ich den Eingangsbereich durchquerte.

Erst als ich mich umdrehte, erkannte ich, dass Harry mir nicht nachgekommen war. Er war an der Türschwelle stehen geblieben. Vorsichtig, beinahe schüchtern wanderte sein Blick über die Einrichtung, die aus seiner Position ersichtlich war.

Der Lockenkopf trat auf mich zu und nahm meine Hände in seine. „Danke", flüsterte er. Seine Arme umschlossen mich und drückten mich sachte gegen seinen Oberkörper. Ich sah zu ihm auf.

Nur andeutungsweise vereinte Harry unsere Lippen zu einem unschuldigen Kuss. So zart und flüchtig.

Jede noch so kleine Berührung die ich von ihm erfahren durfte, stellte alles andere in den Schatten. Jede Zuneigung die ich in meinem Leben bereits zuvor fühlen dufte, wirkte stumpf und leblos, im Vergleich zu dem, was Harry in mir auslöste.

Ich strich mit meinen Fingern seinen Rücken entlang. „Verrätst du mir, was in den Tagen passiert war, an denen ich dich totglaubte?" Nur zögernd brachte ich meine Frage zum Ausdruck. Aber bereits nach meinem ersten Wort schien Harry zu ahnen in welche Richtung es gehen sollte. Denn schlagartig verkrampfte sich sein gesamter Körper. In unserer Umarmung fühlte ich, wie sogar seine Rückenmuskulatur bis zum Anschlag angespannt war.

Schachmatt || LarryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt