{31. Kapitel}

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Ich lehnte mich in meinem Stuhl etwas zurück. Ich konnte nicht einschätzen, welche Veränderung Harry gerade durchmachte. Sein gefährliches Lächeln wurde von Worten durchbrochen, die nun aus seinem Mund kamen. „An den Fällen mitzuarbeiten wurde für mich zur unterhaltsamsten Freizeitbeschäftigung. Ich spielte mich mit den Polizisten, brachte sie auf falsche Fährten, dann doch auf die richtige und dann wieder auf die falsche. Manche hatte ich schon so weit, dass sie davon überzeugt waren, selbst der Mörder zu sein. Ich habe alle zu meiner Marionette gemacht. Sie zur Weißglut gebracht und sie von mir abhängig gemacht." Harrys Augen leuchteten dunkel auf. „Ich erschuf ganze Illusionen."

Sein, in Erinnerungen verlorener Blick, wanderte zu mir. Schlagartig wich seine angespannte Körperhaltung Stück für Stück. „Und dann ist mir etwas bewusst geworden." Das Lächeln erstarb. „Ich spielte den Psychopaten nicht mehr nur... Ich war zu einem geworden." Harry schloss kurz seine Augen und atmete angestrengt aus.

Vorsichtig strich ich mit meinen Fingern durch sein Haar. Der 17-jährige Lockenkopf, der er vor seiner Inhaftierung war, schien mit jedem weiteren Tag, der verstrich, zu verschwinden. Er entfernte sich in die endlosen Weiten seines Unterbewusstseins, bis Harry ihn irgendwann nicht mehr erreichen können würde. Sein früheres Ich... Sein wahres Ich, würde zu einer verschwommen Erinnerung werden.

„Ich wusste, ich konnte das Luminal nicht mehr verlassen. Ich hatte alles verlernt. Ich hatte es verlernt unter Menschen zu sein. In Isolation lebt es sich eben anders", redete er wie in Trance weiter.

„Du hast dein Leben aufgegeben, um das deine Familie zu retten?" fragte ich.

„Ja und ich würde es wieder tun."

Ich nickte, während seine Worte durch meinen Kopf hallten. „Warum hast du gesagt, ich würde dich erschießen, wenn ich es erfahre?"

„Ich wusste, sobald du weißt, dass ich mehr oder weniger freiwillig hier bin, dann würdest du dir vielleicht Hoffnungen machen, dass ich die Anstalt verlasse. Ich wusste, ich müsste all diese Hoffnungen im Keim ersticken, um dich zu schützen."

„Da hattest du mal wieder Recht", ließ ich ihn wissen. „Aber es ist nicht nur eine Hoffnung meinerseits, es ist eine Tatsache. Du wirst die Anstalt verlassen, Harry. Ich werde dich nicht hier lassen."

„Hast du mir nicht zugehört? Ich kann das nicht. Ich habe verlernt frei zu sein."

„Das ist Schwachsinn. Mit deinem Wissen und deiner Intelligenz könntest du genauso auch gleich für die Polizei arbeiten. Du wärst vermutlich ein besserer Sergeant, als ich es bin."

Bitter lachte Harry auf. „Ich habe weder einen Schulabschluss, noch kann ich Autofahren oder verstehe irgendetwas von Zwischenmenschlichkeit. In meinem Lebenslauf ist eine riesen Lücke, die ich nicht erklären kann... Ich weiß nicht mal mehr, wie man ein Smartphone bedient." Er erhob sich, seine traurige Miene war auf mich hinabgerichtet. „Freude, Trauer, Liebe,... Das sind für mich keine Gefühle mehr. Ich musste das alles zu oft spielen, um hier drin nicht draufzugehen, dass ich nicht mehr weiß, was richtig ist und was falsch. Für Häftlinge verschwimmen die Grenzen und für mich, sind sie gar nicht mehr vorhanden."

Auch ich erhob mich nun. Ich war noch immer etwas wacklig auf den Beinen, weshalb ich mich an den Seiten seines T-Shirts festkrallte. „Du hast mich Harry. Ich nehme dich mit zu mir. Ich kann für dich sorgen. Ich zeige dir, was richtig ist und was nicht." Ich spann den Plan in meinem Kopf weiter. Keiner wusste wie er aussah. Solange er seinen Namen nicht nannte, würde niemand auch nur ansatzweise wissen, wer er war. Ich konnte mehr als nur hartnäckig sein, wenn ich etwas wollte. Und ich hatte das Gefühl, zum ersten Mal in meinem Leben zu wissen, was ich wirklich wollte. „Du verlässt das Luminal. Noch heute. Ich..."

Die Hand des Lockenkopfs an meiner Wange, ließ mich verstummen. „Lou, du bist ein aufstrebender Polizist und ich bin nur ein Häftling", sprach er langsam.

„Wärter!" unterbrach ich ihn.

Schmunzelt verdrehte er seine Augen. „Fein, Wärter." Mit Harrys tiefem Luft holen, wurde die Stimmung wieder ernster. „Deine Welt, ist eine Welt, in die ich nicht mehr hineinpasse." Seine Gesichtszüge verrieten mir, er war sich seiner Sache sicher. „Ich könnte es noch so sehr versuchen und würde dennoch scheitern."

„Du hast es noch gar nicht versucht, woher willst du es also wissen?"

„Lou...", setzte er an.

„Nein Harry. Du hast für deine Mutter gesorgt und für deine Schwerster. Du warst 10 Jahre isoliert. Ist es nicht langsam an der Zeit, dass du den Dingen nachgehst, die du willst?" Der Lockenkopf blickte mir geradewegs in die Augen. Das klare smaragdgrün hatte eine hypnotisierende Wirkung auf mich, welche es mir schwer machte, zu sprechen. „Es muss doch etwas geben, das du unbedingt willst und all die Jahre nicht haben konntest" flüsterte ich.

Harrys intensiver Blick verlor sich in meinem.

Keiner bewegte sich auch nur einen Millimeter. Lediglich Harrys Augen verließen nun die meinen. Sein Blick rutschte zu meinen Lippen.

Seine Hand, die noch immer sanft auf meiner Wange lag, wanderte in meinem Nacken und zog mich behutsam, aber dennoch bestimmend, näher zu sich.

Die Zeit schien still zu stehen.

Harry betäubte all meine Sinne und das obwohl sich unsere Lippen noch nicht berührten. Alles was ich in diesem Augenblick wahrnahm, war Er.

Sein betörender Duft.

Seine seidige Haut, unter meinen Fingern.

Der Klang seines leicht beschleunigten Herzschlages.

Harry war der einzige Mensch, der es schaffen würde, durch seine bloße Anwesenheit, die kleinste Befragungszelle eines Hochsicherheitstrakts, zu einem der schönsten Orte zu verwandeln.

Der Druck seiner Hand in meinem Nacken verstärkte sich. Meine Augen schlossen sich nahezu von selbst. Ein elektrisierendes Kribbeln wanderte durch meinen gesamten Körper. Harry war dabei, den letzten Abstand zwischen uns zu überbrücken, als der Alarm der Sicherheitstüre ertönte.

Das nächste was folgte, war ein leises Knurren, welches aus Harrys Brust zu kommen schien. Er hatte sich kein Stück von mir entfernt. Er stand noch immer so dicht vor mir, dass ich das Gefühl hatte, seine Lippen bereits auf meinen spüren zu können. „Ich schicke ihn weg", brummte Harry entnervt.

Ich schüttelte schwach meinen Kopf. „Er will mir nur sagen, dass die Befragungszeit um ist" nuschelte ich zurück. Harry ließ seine Stirn gegen meine sinken. „Versprich mir, dass du es dir überlegen wirst das Luminal mit mir zu verlassen" gab ich leise von mir. Langsam löste ich mich von ihm. Schlagartig wurde mir kalt, als Harrys Arme meinem Körper verließen. „Versprich es mir."

Er strich meine Haare zur Seite. „Ich verspreche es", hörte ich ihn sagen, ehe sich seine Lippen an meiner Stirn zu einem zärtlichen Kuss formten.

Die Röte stieg mir ins Gesicht und verschwand auch nicht, als ich auf wackeligen Beinen das Labyrinth aus Gängen verließ. Ich wollte durch die Tür, die mich ins Frei bringen würde, doch sie wurde mir versperrt.

Eine großgewachsene Frau stand mit verschränkten Armen davor. Ihr blondes Haar war zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden. Eisblaue Augen durchbohrten mich. Ihr Kleidungsstil und die autoritäre Aura die sie umgab, zeigten mir, dass ich mit ihr, die Leiterin der Strafanstalt vor mir hatte.

Schachmatt || LarryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt