{50. Kapitel}

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Nahezu simultan drehten Harry und ich uns um. Dabei sah ich auch nicht nur seine Sekunde zu der Person, die vor uns stand. Mein Blick hatte Harry in den Fokus genommen, dessen Mimik zum ersten Mal Bände sprach.

Seine Gesichtszüge waren verzogen, als würde er die Schmerzen eines ganzen Lebens auf einen Schlag erleiden. Als würde er auf feurig lodernden Kohlen stehen oder als würde man heißes Kerzenwachs über ihm ausgießen.

Langsam, beinahe in Zeitlupe, trat Harry auf die vor uns stehende Person zu. Er streckte seine Hand aus. Tonlos hauchte er „Mum".

Mein Hirn brauchte Zeit, bis ich verstand. Zeit, in der ich die beiden einfach nur anstarrte.

Ihre Gestalt war zierlich, das Haar dunkel. Die Augen, genauso ausdrucksstark, wie die von Harry.

Man konnte förmlich dabei zu sehen, wie ihr mit einem Schlag, die Farbe aus dem Gesicht wich. Sie war kreidebleich. Ihre Augenlider begannen zu flackern. Sie blinzelte mehrmals, da ihr Blick wohl zu verschwimmen drohte. Mit zittriger Hand fasste sie sich an den Kopf, als sie auch schon zu taumeln begann.

Harrys Reflexe waren selbst unter seinem Schockzustand rasend schnell. So griff er bereits nach ihr, noch bevor sie ihr Gleichgewicht verlieren konnte. Er hielt sie auf den Beinen. „Was habe ich getan?" wisperte er völlig aufgelöst. Der Lockenkopf strich ihr Haar aus dem Gesicht, sodass sie ungehindert Luft bekam.

„Du hast gar nichts getan, Harry" versuchte ich ihn zu beruhigen. „Das war gerade einfach nur zu viel." Es fiel ihm sichtbar schwer, seine Ruhe zu wahren.

Doch als die penetrante Verkäuferin und einige andere hilfsbereite Kunden herbeieilten, brach für Harry wahrlich der Super-GAU los.

Das Gefühl der Bedrängung war von seinem Gesicht abzulesen. Er zog seine Augenbrauen zusammen, als würden Kopfschmerzen in ihm wüten. Seine Atmung war beschleunigt und dennoch schien er vollends fokussiert zu sein. Er war in seinem Element. Ohne überhaupt danach suchen zu müssen, sah Harry zu einem Notausgang, im hinteren Bereich des Ladens. Er musste bereits beim Betreten berechnet haben, auf welchen Wegen er die Boutique am schnellsten verlassen konnte. Mit ruhiger Stimmlage sprach ich auf ihn ein, als ich erkannte, was er vorhatte. „Harry... lass sie nicht alleine."  Die Verkäuferin war mit Harrys Mutter bereits beinahe zur Tür hinaus.

„Ich kann ihr so nicht unter die Augen treten", zischte er. „Ich habe noch nichts erreicht."

„Du hast ihr und deiner Schwester damals das Leben gerettet. Ist das etwa nichts? Ihren verloren geglaubten Sohn wieder in die Arme schließen zu können, ist doch vermutlich alles was sie will."

Harrys Blick war gebrochen. Mit geröteten Augen sah er zu Boden.

„Du bist nicht mehr im Luminal, Harry. Du trägst jetzt Verantwortung." Liebevoll strich ich über seinen Arm. Er schenkte mir ein schwaches Lächeln.

Ich lief zu seiner Mutter und löste die Verkäuferin ab und half der, noch immer in Trance versunken Frau zur nächsten Parkbank.

Ich drehte mich um, um zu sehen, wo Harry blieb.

Aber er war nicht mehr hinter mir.

Er war weg.

Kaum waren wir draußen, umspielte uns ein leichter Sommerwind.

„Vielen Dank", sagte sie, mit immer noch brüchiger Stimme. „Wie fruchtbar peinlich. Sowas hatte ich noch nie." Es machte den Eindruck, als würde sie langsam aus der Trance zurückfinden. Der Nebel, der sich über ihre Sinne gelegt hatte, lichtete sich allmählich durch den kühlen Wind und der frischen Luft.

Schachmatt || LarryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt