{69. Kapitel}

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Der Aufschub von 48 Stunden: verstrichen.

Lillith: ermordet.

Harrys letzte Hoffnung: im wahrsten Sinne des Wortes gestorben.

Wir waren an einem Punkt, an dem es nicht mehr weiter ging. Ich hatte keinen Plan und keine Idee, wie ich Harry helfen konnte. Ich war mir sicher, irgendwo gab es einen Ausweg. Aber dieser Ausweg war wie die Nadel im Heuhaufen. Ich würde Tage, wenn nicht sogar Wochen brauchen. Doch der Richter gewährte nur einen Aufschub und dieser war nun mal rum. Die Verhandlung wurde vorgesetzt.

Mit meiner Aussage, dass ich zu Harry keine Bindung hatte, wurde ich für den Fall unwichtig. Ich durfte dem weiteren Verlauf der Verhandlung also nicht mehr beiwohnen.

Vollkommen alleine mit meinem Gedanken saß ich vor dem Gerichtssaal. Ich war von schlanker Statur und dennoch drückte mir der Stuhl, an jeder erdenklichen Stelle das Blut ab. Die großen Flügeltüren waren zu massiv, als das sie auch nur ein einziges Wort zu mir hätten durchdringen lassen. Ich wusste nicht was dort drin vor sich ging. Ich saß einfach nur da und war gezwungen abzuwarten.

Ich lehnte gerade meinen Kopf gegen die kühle Wand, als die Tür aufging. Juliet trat auf mich zu. Sofort sprang ich auf meine Beine, doch sie deutete mir, mich wieder zu setzten. "Falscher Alarm", sagte sie. "Mittagspause."

"Was dauert da so lange?" fragte ich verzweifelt. Meine Nervosität nagte nicht nur an mir, sie hatte bereits große Stücke von mir abgebissen und verschlungen.

"Carpenter bringt immer wieder neue Punkte auf den Tisch, die aber leider alle irrelevant sind." Juliet flüsterte, sodass niemand hören konnte, was sie mir sagte.

"Wie groß ist die Chance, dass sie ihn gehen lassen?"

Juliet schüttelte sanft ihren Kopf. "Sie geht gegen Null. Aber gib die Hoffnung noch nicht auf. Der Richter meinte vorhin er findet Harry sei sympathisch. Vielleicht mindert das das Strafmaß und er bekommt nur wenige Jahre."

Es kostete mir viel Kraft ihr tatsächlich Glauben zu schenken. "Ich werde es dich sofort wissen lassen, wenn ein Urteil gefällt wurde."

"Vielen Dank, Juliet." Ich sank zurück auf den Stuhl.

Sie lächelte mich schwach an, bevor sie ging.

Ich verspürte keinen Hunger, also blieb ich sitzen. Die Mittagspause verstrich und der zweite Teil der Verhandlung begann. Ich starrte auf die große Uhr am Ende des Flures. Ich war mir sicher, die Zeiger würden rückwärts laufen. Der Gang war leer. Niemand außer mir hielt sich in ihm auf. Ich hatte bereits alle Parkettlamellen gezählt, welche den Boden bildeten. Die Marmorierung der Wandverkleidung inspiziert und das Alphabet mehrmals rückwärts aufgesagt.

Die Flügeltür gab ein Knarren von sich, als sie geöffnet wurde. Mein Blick schreckte hoch. Einige der Geschworenen traten heraus. Sie unterhielten sich, aber ich konnte aus ihren Worten nichts Brauchbares filtern.

Endlich trat Juliet in mein Sichtfeld. Nichts konnte mich mehr in meinem Stuhl halten. In Windeseile erhob ich mich und ging auf sie zu.

Sie öffnete ihren Mund, aber kein Wort kam heraus. Kaum merklich schüttelte sie ihren Kopf.

"Was? I-ich verstehe nicht", sagte ich.

Sie schluckte. "Sie haben ihn verurteilt. Lebenslange Haft, ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung." Ihre Stimme war kaum mehr als ein Wispern.

„Nein. D-das ist nicht wahr!"

Juliet ließ ihr Haupt sinken. „Wir waren nicht überzeugend genug. Das Gericht wollte nicht glauben, dass es Hunter Burris tatsächlich gibt. Nur Lillith hätte Harry noch helfen können... Aber jetzt..."

Jegliches Leben wich aus meinem Körper. Ich schwankte. Ich griff nach der Lehne des Stuhls, um mich aufrecht zu halten. „Nein! Harry hat ein HappyEnd verdient!" Mit jedem Wort wurde ich lauter.

"Es tut mir so leid, Louis." Selbst Juliet wirkte mitgenommen.

"W-wir müssen doch noch irgendetwas unternehmen können. I-ich ich... Was soll ich jetzt nur tun?" Ich stammelte vor mich hin, ohne meine eigenen Worte selbst hören zu können. Ich balancierte am Rande eines Nervenzusammenbruches.

"Ich sage dir, was du jetzt tun wirst." Ihr Blick wanderte zur offenen Tür. "Geh zu ihm... Geh zu ihm und verabschiede dich."

Ich war unfähig zu reagieren. Ich wollte mich nicht verabschieden. Ich war nicht bereit dazu Harry erneut aus meinem Leben treten zu lassen. Ich wollte es leugnen. Doch alles brach über mir zusammen und ich wurde unter den Trümmern begraben.

Juliet griff nach meinem Handgelenk und schob mich zur Tür. Ich stolperte unbeholfen vorwärts, als wäre es mein erster Tag auf Beinen. Ich hielt mit am Türrahmen fest. Ich hatte versagt. Ich konnte ihm jetzt unmöglich unter die Augen treten.

Ich wollte Kehrt machen, doch da traf mein Blick bereits auf smaragdgrüne Augen. Harry begann zu lächeln, als er mich sah. Zögernd trat er einen Schritt auf mich zu.  "Ich dachte, du wärst gar nicht gekommen", sprach er leise. "Ich freue mich, dass ich mich geirrt habe."

Jeder Zentimeter meines Körpers wollte Harry jetzt umarmen. Doch ich konnte nicht. Zu viele Leute, die nicht wissen durften, wie ich tatsächlich zu ihm stand, umgaben uns. "Natürlich bin ich hier. Wo sollte ich auch sonst sein? Immerhin bist du mein Zuhause", sagte ich schlussendlich, kaum hörbar. "Es tut mir leid, Harry. Ich habe versagt. Deine Freiheit war nicht von Dauer."

Harry legte Anne, welche neben ihm stand, einen Arm um die Schultern, als sie erneut zu schluchzen begann. Er schüttelte seinen Kopf, dass sich seine langen Locken bewegten. "Wenn man es genau nimmt, dann war ich eigentlich nie frei."

Beschämt sah ich auf den Boden. "Ich hätte schneller sein müssen. Dann wäre Lillith jetzt vielleicht noch am Leben und du müsstest nicht hinter Gitter."

"Nein, Louis. Wenn wer versagt hat, dann ich." Sein Lächeln verschwand. "Ich war alles andere, als ein guter Umgang für dich. Wegen mir musstest du vor Gericht. Es ist mir beinahe peinlich, nach alledem was du wegen mir durchstehen musstest, dich um einen weiteren Gefallen zu bitten."

"Welcher Gefallen?" Ich wusste, egal was es auch war, ich würde es ohne zu zögern tun.

Harry sah zu Anne. Sie klammerte sich am Arm ihres Sohns fest. "Kannst du dich für mich um meine Mutter kümmern?"

Ich nickte eifrig. "Ja, ja natürlich", hauchte ich. Harry löste sich aus ihrer Umklammerung. Ich nahm ihre Hände in meine, um ihr zu zeigen, dass jemand für sie da war.

Der Lockenkopf bewegte seine Lippen an mein Ohr. Mein Körper reagierte schlagartig, indem sich eine Gänsehaut ausbreitet. "Bitte, verhindere, dass sie sieht, wie ich abgeführt werde."

Erst als Harry wieder Abstand zu mir aufbaute, sah ich, dass ein Gerichtsdiener auf uns zukam. Ich nahm Anne in den Arm und schränkte so ihre Wahrnehmung ein. Ohne seinen Blick von mir zu nehmen, streckte der Lockenkopf seine Hände aus. Die Handschellen klickten.

Der Gerichtsdiener nahm Harry mit sich. Nun wusste ich, warum er nicht wollte, dass sie dies sehen musste. Es waren Szenaren, die einen zerrissen. Es war ein bitterer Schmerz, der mit Worten kaum zu beschreiben war. Ich kämpfte, um aufkommende Tränen zu verhindern. Ein Kampf, den ich nur verlieren konnte.

Harry war bereits beinahe aus meinem Sichtfeld verschwunden, als er stehen blieb. Er sah mich an. Lautlos formten seine Lippen die Worte "Ich liebe dich".

Schachmatt || LarryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt