„Was hat Hunter dir gegeben?" Ich hatte diese Frage nun schon so oft gestellt, dass ich sie selbst nicht mehr hören konnte.
Harry fuhr sich durch sein Haar. Sein Gesicht verriet mir, ich könnte noch so oft fragen wie ich wollte, er würde mir keine Antwort entgegenbringen.
„Okay. Fein. Ich bin fertig." Ich drehte mich um und riss die Tür auf. Meine Beine trugen mich ins Freie. Ich wartete auf das laute metallische Knallen, das entstand, wenn eine schwere Eisentüre in ihr Schloss fiel. Aber es blieb aus. Jemand hielt die Tür auf. Ich drehte mich nicht um, sondern brachte immer mehr Abstand zumischen mich und die Lagerhalle. Ich trat auf das offene Gelände. Doch da wurde ich am Handgelenk gepackt und schwungvoll zurückgezogen.
Ich sah auf, in Harrys funkelnde Augen. „Ich habe Scheiße gebaut", ließ er mich mit rauer Stimme wissen. Diesmal war es an mir nicht zu reagieren. „Ich war blind. Ich habe den Deal angenommen ohne darüber nachzudenken, was das für dich bedeutet..." Er unterbrach unseren Augenkontakt. Er sah weg.
„Was ist das für ein Deal?", fragte ich voller Hoffnung, endlich eine Antwort zu bekommen. Aber auch diesmal ging ich leer aus. Die Stille, die Harry zwischen uns entstehen ließ, war ohrenbetäubend. Alles, was in dieser ruhigen Nacht, zu hören war, war lediglich das Zirpen der Grillen im hohen Gras.
Ich schloss meine Augen, als ich fühlte, wie Tränen der Verzweiflung in mir aufkamen. Ich war nicht dazu bereit, ihnen freien Lauf zu gewähren. Meine Emotionen sollten im Verborgenen bleiben. Harry schien meinen inneren Kampf zu bemerken. Mit seinen Worten wollte er ihn scheinbar stoppen. „Es war vor ungefähr vier Jahren." Seine Stimme war gedämpft. Ich öffnete meine Augen und sah ihn an. „Im Luminal hatte man Besuch für mich angemeldet. Daher brachte man mich in eine der Befragungszellen. Sie war noch leer. Niemand war da. Also setze ich mich und wartete. Ich wartete lange, beinahe ewig. Als endlich jemand erschien. Eine Frau. Sie begrüßte mich nicht, sie sagte mir nicht wer sie war, stattdessen ließ sie mich nur wissen, was sie wollte."
Das Ende dieser Geschichte schien weit in der Ferne zu liegen, weshalb ich mich setzte. Die Sonne war zwar bereits verschwunden, aber dennoch strahlte der Boden eine angenehme Restwärme ab. Der Himmel war klar. Der Mond schien hell. Er spendete gerade so viel Licht, dass ich einen Schatten warf. „Was wollte sie?", animierte ich Harry weiter zusprechen.
Er kniete sich zu mir auf den Boden. „Ich wusste nicht, in welche Richtung dieses Gespräch laufen sollte. Ich sprach nicht. Ich hörte einfach nur zu. Sie erzählte mir von ihrem Partner, dessen Bruder verhaftet worden war. Es stand bereits fest, dass der nächste frei Platz in der Luminalstrafanstalt wohl von ihm bezogen werden würde." Harrys Blick lag auf meinen Händen, welche Kornblumen aus der Erde rissen, die sich direkt vor mir befanden. Er sah mich zwar an, aber sein Blick hatte mich nicht in den Fokus genommen. Er war in der Vergangenheit. Durch seine Erzählung erlebte Harry dieses Gespräch erneut. Nur diesmal war auch ich Teil davon.
„Aus irgendeinem Grund schien sie ganz genau zu wissen, wer ich war. Denn sie bot mir offen einen Deal an." Er stoppte und sah mich an. „Ich sollte den verhafteten Bruder aus der Anstalt befreien. Als Gegenzug konnte ich einen Gefallen meiner Wahl einfordern." Der Lockenkopf nahm mir eine von mir geköpfte Kornblume ab. Gedankenverloren betrachtete er diese.
„Das Ganze klang so absurd, das ich nicht anders konnte, als in Gelächter auszubrechen." Auch jetzt formten sich Harrys Lippen zu einem sanften Lächeln. „Ich lehnte also ab. Und zu meiner Überraschung akzeptierte sie meine Entscheidung. Ohne ein weiteres Wort erhob sie sich und verschwand aus der Befragungszelle. Ich war mir so sicher, niemals einen Gefallen von irgendjemand einfordern zu müssen. Aber der Tag sollte kommen, an dem ich eines Besseren belehrt wurde." Sein Lächeln verschwand augenblicklich. „Damals, bevor du das erste Mal bei dir warst, hat man dir meine Akte gegeben. Ruf sie dir ins Gedächtnis."
Verwirrt runzelte ich meine Stirn. Ich verstand nicht und dennoch tat ich was Harry von mir verlangte. Ich sah es direkt vor meinem geistigen Auge.
Seine überfüllte Polizeiakte. Der lädierte Bogen, der die unzähligen Blätter zusammenzuhalten versuchte. Die knappe Personenbeschreibung auf der ersten Seite, die Harry keines Wegs gerecht wurde.
„Diese falsche Polizeiakte wurde verfasst, bevor ich inhaftiert wurde. Sie sollte meine Identität als Wärter schützen. Aber neben dieser falschen Akte gibt es auch noch eine weitere. Eine echte. Sie ist nur von bestimmten Regierungsmitgliedern einzusehen." Er zuckte kaum merklich mit den Schultern. „Weißt du, das Luminal hat seine eigenen Regeln, nach denen es spielt. Es interessiert niemanden was dort vor sich geht. Denn alle Häftlinge waren und blieben für immer eine Angelegenheit der Anstalt. Ich aber nicht. Denn durch die Tatsache, dass ich das Luminal eines Tages wieder verlassen konnte, musste man irgendwie sicherstellen, dass ich körperlich als auch geistig dazu fähig war, wieder Teil der Gesellschaft zu werden. Durch diese Umstände unterlag ich den Regeln der Regierung. Jedes Jahr kamen Regierungsgutachter zu mir. Zwölf an der Zahl. Jeder von ihnen führte eine langwierige Befragung mit mir durch, um anschließend ein Gutachten über mich zu erstellen. Jedes dieser zwölf Gutachten musste positiv sein. War nur eines negativ, würde ich all meine Privilegien verlieren und ich durfte die Luminalstrafanstalt nicht mehr verlassen."
Harry sah auf in den Himmel. Ich sah die Spiegelung des Mondes in seinen Augen. „Ich hatte nie Angst vor diesen Befragungen", fuhr er nach einer kurzen Pause fort. Bis vor einem halben Jahr... Drei Tage hatten mich die Beamten in die Mangel genommen..."
„Es war ein negatives Gutachten dabei, habe ich Recht?" fragte ich zögernd.
Harry wog sanft seinen Kopf umher, als konnte er sich nicht entscheiden, ob er nicken oder verneinen wollte. „Nicht ganz... Fünf. Fünf Gutachten waren negativ. Sie unterschrieben mein Urteil. Ich würde die Anstalt nie mehr verlassen." Er schluckte. Es fiel ihm sichtlich schwer darüber zu sprechen. „Anfangs las sich meine Akte wie... nunja wie deine vermutlich. Aber mit jedem Jahr das dazu kam, wurde sie immer mehr zu einem Stephen King Horrorroman. Meine echte Akte ähnelte immer mehr der gefälschten. Ich wurde zu dem Psychopathen, den sie vor meiner Inhaftierung vorhergesagt hatten."
Ich war froh, dass das schwache Licht des Mondes mein Gesicht nicht erhellte. Denn ich war mir sicher, es spiegelte gerade jegliche Emotion, die ich in mir trug. Von Freude, endlich die Wahrheit zu kennen, bis zu purem Entsetzten. Alles was zuvor so logisch für mich war, wurde mit einem Schlag zu sinnfreiem Brei.
„Dich immer nur dann sehen zu können, wenn du eine Befragung mit mir hattest, konnte ich nicht ertragen", sprach Harry schüchtern weiter. „Ich wollte raus. Ich wollte bei dir sein. Immer. Zu jeder Zeit. Also habe ich den Deal mit Hunter doch noch angenommen. Ich würde seinen Bruder befreien und er fälschte im Gegenzug meine Regierungsgutachten, sodass ich frei war und gehen konnte."
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Schachmatt || Larry
FanfictionWas passiert, wenn der gefährlichste Insasse eines Hochsicherheitstrakts, zu deinem größten Vertrauten wird? Du fühlst dich genau bei der Person am wohlsten, bei der du es am wenigsten tun solltest. Larry Stylinson Cover by SPACE_BLAKK