{76. Kapitel}

3.1K 351 53
                                    

„Du willst also wissen was mit Harry ist?" sprach Hunter mit zusammengebissenen Zähnen.

Ich wusste, dass diese Frage rhetorischer Natur war und dennoch konnte ich nicht einfach an mich halten. „Ich habe ein Recht darauf zu erfahren was du ihm angetan hast!" schrie ich ihm beinahe schon entgegen. Nicht nur meine Stimme war zittrig, auch mein Körper bebte. In dieser Sekunde hasste ich alles. Ich hasste das Hunter es geschafft hatte, mich so unsicher fühlen zu lassen, wie zuletzt im Sportunterricht der Unterstufe. Ich hasste den mitfühlenden Blick den er mir schenkte. Ich hasste es ihn vor mir zu haben und nicht meinen Lockenkopf.

„Was ich mit ihm gemacht habe?" wiederholte Hunter meine Worte. Er schenkte mir ein sarkastisches Lächeln. "Ich habe jedem immer nur das gegeben was er wollte. Familie. Unterkunft. Geld. Ich war es der Harry die Freiheit geschenkt hat. Ich habe ihm die Möglichkeit gegeben bei dir zu sein." Er legte seinen Kopf schief. "Also wieso... wieso siehst du mich als deinen Gegner an, Louis?"

Ich atmete tief durch. Mit zittrigen Händen fuhr ich mir über das Gesicht. Meine Finger waren eiskalt. Hunter musterte jede meine krampfhaften Bewegungen eindringlichst. "Ich will nur wissen, was mit Harry ist."

Der Amerikaner fasste sich mit Daumen und Zeigefinger an seinen Nasenrücken. Er kniff seine Augenlider zusammen, als würde ein stechender Schmerz durch seinen Kopf eilen. "Louis, als ich Isabella auflauerte, war Harry nicht bei ihr." Er klang so aufrichtig, beinahe schon verletzt, dass ich ihm diese Mutmaßung überhaupt unterstellte. "Ich versichere dir... nein, ich schwöre dir sogar beim Grabe meiner Mutter..." Hunter hob seine Hände an, mit den leeren Handflächen zu mir gedreht. "Ich habe Harry nichts getan."

Hunters Gesichtszüge waren zart, fast schon so lieblich wie die eines Kindes. Ich fühlte, dass er die Wahrheit sagte. Etwas anderes konnte ich auch gar nicht glauben. Was war mir denn noch geblieben als die Hoffnung? Die Hoffnung, dass Harry lebte und ich ihn bald wieder bei mir hatte. Ich musste Hunter einfach Glauben schenken. Denn ich war am Ende meine Kraft angelangt. Obwohl ich saß wankte mein Körper leicht.

Hunter erhob sich. Zielsicher steuerte er meine Küche an. Ohne auch nur einen Moment überlegen zu müssen öffnete er einen der Schränke und holte ein Glas heraus. Er befüllte es mit Leitungswasser, ehe er wieder zu mir kam. Er reichte mir das Glas. "Hier, trink!"

Ich griff nicht danach. Eine Woge der Skepsis eilte durch meinen Körper.  Was sollte diese Geste der Zuneigung? Hunter bemerkte mein zögern. "Was ist? Du hast doch gerade eben gesehen wie ich es befüllt habe. Ich vergifte dich schon nicht." Amüsiert zog er die Mundwinkel nach oben. "Jetzt trink endlich. Du wirkst dehydriert." Hunter drückte mir das Glas so schwungvoll in die Hand, sodass etwas von dem Wasser über den Rand schwappte und somit über meine Haut lief.

Erwartungsvoll sah der Amerikaner mich an. Zögernd setzte ich das Glas an meine Lippen, doch ich ließ nichts von der Flüssigkeit in meinen Mund eindringen. Ich schluckte meinen Speichel hinunter um die Illusion glaubhaft wirken zu lassen. "Wie oft warst du schon in dieser Wohnung?" fragte ich ihn. Ich erntete einen verwunderten Blick. "Du wusstest in welchem Schrank die Gläser stehen. Das hier ist also nicht das erste Mal, dass du hier bist."

Stumm begann Hunter zu Lächeln. "Stimmt, das ist nicht das erste Mal."

Erinnerungsstücke setzten sich in meinen Kopf zusammen, wie ein Puzzle. "Nicht Isabella, sondern du. Du hast die Schachfigur aus meinen Spiel geklaut", stammelte ich nachdenklich.

Er nickte. "Wieder richtig. Isabella hat weder gemordet, noch gestohlen. Als wir uns kennenlernten war ihre Weste rein und ich wollte, dass das auch weiterhin so bleibt." Seine Stimme spiegelte Aufrichtigkeit und einen Funken an Leid.

"Wieso?" Ich sprach kaum lauter als ein Flüstern. "Wieso das alles?"

Hunters Gesicht war in meine Richtung gewandt. Doch er sah mich nicht an. Mit seinem Rücken lehnte er an der Wand. Die Arme vor der Brust verschränkt. Das fahle Licht welches durch das Fenster fiel leuchtete die Konturen des Amerikaners aus. "Ich war gerade erst fünf Jahre alt, als sich meine Mutter ihr Leben nahm", begann Hunter mir seine Geschichte darzulegen. "Mein älterer Zwillingsbruder Haydon und ich waren von diesem Moment an auf uns alleine gestellt. Wir wurden von einem Heim zum nächsten gereicht. Irgendwann waren wir zu alt und man legte uns nahe auf eigenen Beinen zu stehen. Aber Haydon und ich hatten keinen Schulabschluss. Wir bettelten darum im Heim bleiben zu dürfen. Aber es ging nicht. So landeten wir eines Tages auf der Straße. Wir hatten kein Geld. Also stahlen wir. Mal Kleidung. Mal Essen. Es ging lange gut, doch dann wurden wir verhaftet. Den Beamten war dabei vollkommen gleichgültig warum wir eigentlich stahlen. Wir taten dies nicht, weil wir es wollten. Wir taten es um zu überleben." Für einen Bruchteil einer Sekunde fand Hunter aus seiner Starre. Seine graublauen Augen nahmen mich in den Fokus. Sie waren glasig. "Ist jemand der etwas Schlechtes tut um etwas Gutes zu bewirken tatsächlich böse?" Ich öffnete meinen Mund. Ich wollte etwas sagen, aber ich konnte nicht.

Seufzend sah er zu Hufflepuff der friedlich schlafend am Boden lag. "Nachdem wir unsere Strafe im Jugendknast abgesessen hatten ließ man uns wieder gehen. Haydon und ich kämpften uns weiter durch. In manchen Nächten gewährte uns eine ältere Dame, sie besaß eine kleine Backstube am Rande von Valdez, Unterschlupf." Er stoppte. Hunters maskenhafte Mimik ließ Trauer erkennen. "Irgendwann starb sie. Die letzte Person, der wir vertrauten... Die letzte Person, die an uns glaube... einfach weg." Gänsehaut bildete sich an meinem gesamten Körper, als mir ein eisiger Schauer über den Rücken lief. "Die Winter in Alaska sind kalt und lang. Wir saßen an der leergeräumten Backstube. Mit dem Rücken zur Wand. Sie gab keine Wärme ab. In meinen Armen hielt ich Haydon. Ich versuche ihn mit meinem selbst heruntergekühlten Körper zu wärmen. Seine Lippen waren bereits blau. Kleine Eiskristalle hatte sich an seinen Wimpern gebildet."

Der Amerikaner sah mich an, als ich sanft meine Stimme erhob. "Hunter..." begann ich vorsichtig. "Ich weiß welchen Schmerz du in dir trägst. Auch ich habe meine Mutter verloren, da war ich gerade erst ein Teenager."

"Ja, Louis. Deine Mutter starb." Ich zuckte zusammen. Er sprach mit dieser Sicherheit, als wüsste er von jedem noch so kleinen Ereignis meines Lebens bestens Bescheid. Vollkommen geleichgültig ob vergangen, gegenwärtig oder zukünftig. "Jeder Mensch hat eine Aufgabe hier auf Erden. Zur Vollendung dieser Aufgabe benötigen manche  80 Jahre und andere weniger. Deine Mutter hatte ihre Aufgabe erfüllt. Sie hat dich zur Selbstständigkeit erzogen. Aber meine? Meine wählte den Freitod. Und dabei wollte sie auch mir und Haydon das Leben verwehren, nur weil sie ihr eigenes so sehr hasste." Erneut hatte ich das Bedürfnis ihm zu widersprechen, aber kein Ton verließ meinen Mund. Stumm ließ ich Hunter fortfahren. "Ich erkannte, ich musste etwas tun. Niemand wollte sehen wie sehr wir litten. Niemand wollte helfen. Keiner war für uns da. Wir mussten ins Gefängnis, weil wir versuchten zu überleben." Ein sarkastisches Lächeln verließ seine Lippen. "Die Reichen werden reicher und die Armen werden ärmer. Das ist das System in dem wir nunmal leben. Alle, die für mich arbeiteten, hatte dasselbe Schicksal ereilt wie mich und meinen Bruder. Wir alle stammten vom Rande der Gesellschaft. Verstoßene. Niemand machte sich die Mühe hinter die Fassade zu Blicken. Es ist ja auch um so vieles leichter, jemanden abzustempeln, weil es die anderen auch tun." Er seufzte.

Schachmatt || LarryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt