„Harry" setzte ich an, führte meinen Satz jedoch nicht weiter aus, als mich das Klirren seiner Fesseln unterbrach. Der Stuhl auf dem ich saß, knackte leicht, als ich mich umdrehte, um den Wärter ein Zeichen zu geben. Ich holte ihn zu uns in die Zelle. Wortlos befahl ich ihm Harrys Ketten und Gurte zu lösen. Es dauerte mehrere Minuten bis alle Schlösser und Riemen geöffnet und entfernt waren. Weshalb ich mir einstweilen in meinem Kopf zurechtlegte, was ich zu sagen hatte.
Die Geräusche, die auf der anderen Seite des Tisches entstanden, verstummten allmählich. Der Uniformierte packte alle Fesseln und verließ die Zelle wieder.
Stille kehrte ein.
Harry würdigte mich die gesamte Zeit über keines Blickes.
„Wirst du mich irgendwann nochmal ansehen?", wisperte ich mit brüchiger Stimme.
Langsam hob er seinen Kopf an. Leere grüne Augen wurden auf mich gerichtet, aber sie sahen mich nicht an. Sie blickten durch mich hindurch. Ein eisiger Schauer wanderte meinen Rücken hinab.
Ich beschloss einfach darüber hinweg zu sprechen. „Ich habe mir die Videos der Überwachungskameras angesehen... Du hast die Räumlichkeiten nie verlassen." Ich erwartete wenigstens eine winzig kleine Veränderung seiner maskenhaften Miene, aber da war nichts. Hörte er mich überhaupt an oder versuchte er mich auszublenden?
Der Lockenkopf ließ seine Handgelenke kreisen, um die Durchblutung zu fördern, die ihm zuvor von den Handschellen abgeschnürt wurde. An der Stelle, an der sie saßen, war die Haut abgeschunden.
„Du hast die Räumlichkeiten vielleicht nicht verlassen, aber dennoch ist da etwas, das nicht stimmt" fuhr ich fort. Ich löste meinen Blick von Harrys Händen und ließ ihn wieder zu seinen Augen wandern. Er starrte immer noch durch mich hindurch. „Die Schlägerei, bei der du verletzt wurdest..." Kaum merklich zuckten einige seiner Gesichtszüge. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich das Thema mit dem Phantombild fallen lassen und stattdessen dieses aufgreifen würde. „Du hast den Streit provoziert, habe ich recht?" Sein Mund blieb verschlossen. Sein Kiefer war angespannt und seine Augenbrauen zusammengezogen. „Du kannst Gebärdensprache...Ratte." Bei meinem letzten Wort nahmen mich Harrys grüne Augen endlich in den Fokus. Aber das war auch schon alles. Er ließ mich kein Wort hören.
Ich fuhr mir über mein Gesicht. Meine kalten zittrigen Hände hinterließen eine eisige Spur. Ich konnte die Tränenflüssigkeit sehen, die sich in meinem unteren Augenlid sammelte. „Harry, ich bitte dich. Sprich endlich mit mir!", flehte ich. Eine einzelne Träne erkämpfte sich ihren Weg über meine Wange. Ich wischte sie nicht weg, es war mir egal. In diesem Moment wollte und konnte ich keine Stärke zeigen. Harry schien meinen gebrochenen Blick nicht ertragen zu können. Er wand seinen Blick ab.
Sag etwas. Irgendetwas. Sag etwas. SAG ETWAS!
Nichts.
Wie ferngesteuert erhob ich mich. Er wollte mich seine Stimme nicht hören lassen. Diese Befragung und alle künftigen würden hier und jetzt ihr Ende finden.
„Du kennst den Grund, warum ich hier bin. Und dennoch hast du den einfachen Weg gewählt... Mich als den Schuldigen hinzustellen", sprach der Lockenkopf langsam und ruhig zu mir.
Wie angewurzelt blieb ich stehen. „Ich kenne den Grund nicht."
Er schüttelte sanft seinen Kopf. „Bereits nach unserer ersten Unterhaltung hattest du eine Vermutung. Im letzten Eck deines Bewusstseins war dieser Gedanke, aber er war nicht laut genug. Meine Unschuld war für dich nicht glaubwürdig, aber, dass ich hier eingesperrt trotzdem einen Mord verüben kann... dem hast du sofort Glauben geschenkt. Hast du eigentlich eine Vorstellung, wie weh das tat? 10 Jahre Louis..." Er schluckte, als seine Stimme zu versagen drohte. „10 Jahre bin ich schon hier drin. Ich musste Schmerzen ertragen... aber die waren nichts, nichts gegen das was du mich hast fühlen lassen." Harry zog die Luft scharf ein und schloss seine Augen, um aufkommende Tränen zu verhindern. „Als du letztens einfach weg bist, wollte ich dir nach, aber ich konnte nicht, weil ich hier drin eingesperrt bin... Es hat mich zerstört."
Harry erhob sich aus seinen Stuhl, trat jedoch keinen Schritt auf mich zu. „Als du die letzten Termine nicht wahrgenommen hast, war ich dennoch trotzdem hier." Er deutete auf die Befragungszelle. „Ich habe jedes Mal die volle Stunde gewartet. Auf die Tür gestarrt und gehofft sie öffnet sich und ich darf dein Gesicht nochmal sehen." Er biss sich auf die Unterlippe, als sie zu zittern begann. „Hoffen zu müssen, dass du wieder kommst und rein gar nichts dagegen tun zu können, wenn du mir fernbleibst... Du hast mich zum ersten Mal wie einen Gefangen fühlen lassen."
Seine Worte bohrten sich durch meine Brust, direkt in mein Herz und lösten dort einen stechenden Schmerz aus.
„Ich kenne den Grund nicht, Harry", flüsterte ich. Meine Tränen wurden immer mehr. „Du siehst vielleicht in Menschen hinein, als wären sie aus Glas, aber ich kann das nicht. Deine Gesichtszüge lesen sich für mich wie Hieroglyphen. Ich habe dich in mein Leben gelassen, in meinen Kopf. Aber du mich nicht in deinen. Wie sollte ich da je etwas anderes sehen, als den Häftling?" Ich stoppte und musterte ihn. Sein Blick war abgewandt. Es machte den Eindruck, als wäre das Gespräch für ihn bereits wieder beendet. „Wenn du nicht zu mir sprichst, dann werde ich nie etwas anderes in dir sehen können... als einen Insassen der Luminalstrafanstalt."
Ich wartete ab. Obwohl ich schon lange wusste, ich würde keine Antwort mehr erhalten.
Es wurde Zeit für mich.
Zeit zu verschwinden.Ein letztes Mal sah ich ihn an. Ich wollte etwas sagen. Mich verabschieden. Doch was sagte man in solch einer Situation? Nichts konnte meinen Schmerz in Worte kleiden.
Mit glasigen Augen schüttelte Harry leicht benommen seinen Kopf und ließ mich inne halten. Flüsternd drang seine Stimme an mein Ohr. „Ich bin kein Insasse... Ich bin ein Wärter."
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Schachmatt || Larry
FanfictionWas passiert, wenn der gefährlichste Insasse eines Hochsicherheitstrakts, zu deinem größten Vertrauten wird? Du fühlst dich genau bei der Person am wohlsten, bei der du es am wenigsten tun solltest. Larry Stylinson Cover by SPACE_BLAKK