{43. Kapitel}

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Ich musste atmen. Ich fühlte zwar wie mein Brustkorb sich hob und wieder senke, aber dennoch schien kein Sauerstoff meine Lunge zu erreichen. Ich drohte zu ersticken. So viele Gefühle brachen gleichzeitig über mich herein... Schuld. Angst. Trauer. Aber keines davon schaffte es bis an die Oberfläche. Wie eine Schaufensterpuppe saß ich da. Mein Blick verschwamm allmählich. Alles was bis vor wenigen Sekunden direkt vor mir war, schien nun unendlich weit weg.

Ich vernahm die verzerrte Stimme meines Captains. „Louis?" Er war direkt vor mir und dennoch konnte ich ihn nicht sehen.

Vorsichtig berührte er mich an meinem Arm, um mich so wieder zu sich zu holen. Aber ich fand den Weg nicht aus der Trance, in die ich gefallen war. „Louis. Du hast mein aufrichtiges Beileid."

Wie kaputt meine Psyche war, erkannte ich darin, dass ich in wenigen Minuten alle Stadien der Trauer durchlief.

Unaufhörlich schüttelte ich meinen Kopf. „Nein...Nein! Das ist ein Irrtum. Har.. Ha.." Ich konnte seinen Namen nicht sagen. „Er.. Er war ausgebildet." Ich dachte über meine Worte nicht nach, sondern sprach einfach. „Es muss ein Irrtum sein." - Verleugnung.

„Louis, sie haben mir eine Kopie der Sterbeurkunde ausgehändigt."

Der unscheinbare Zettel in seiner Hand fing meinen starr gewordenen Blick ein. Ich riss ihn aus seinen Händen. Ich überflog die Buchstaben. Immer und Immer wieder. Ich musste es laut vorlesen, damit ich nicht nur sehen, sondern auch hören konnte, ob diese Worte wirklich Sinn machten. Ich umfasste das Stück Papier so fest, dass es riss. „SIE HAT MIR IHR WORT GEGEBEN!" schrie ich. „Sie wollte ihn beschützen! Sieht so etwa beschützen aus?" Ich hob meine Hand, die die Papierfetzen zusammenhielt, an. „SIE HAT IHN EINFACH ALLEINE GELASSEN!" Der Captain versuchte seine Hand nach mir auszustrecken, aber ich schlug sie unachtsam weg. „Fassen... Sie mich nicht an. - Zorn.

Fluchtartig verließ ich das Büro. Mein Boss wollte mir nach, aber ich hastete in das erste Taxi und verschwand aus seiner Reichweite. Noch bevor der Wagen vollständig zu Stehen kam, öffnete ich bereits die Tür, warf dem Fahrer das Geld zu und war weg.

Mit dem zerrissenen Sterbeschein stand ich nun vor Noam. „Wann hattest du vor es mir zu sagen?" Erste Tränen machten sich auf den Weg. Noam versuchte mich zu besänftigen, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Wenn ich letztes Mal nicht einfach gegangen wär...dann" Meine Stimme versagte. „Dann wäre er jetzt vielleicht noch am Leben." - Aushandeln.

„Louis, es ist..." setzte Niall an, der auf mich zu eilte, um meinen schwächer werdenden Körper zu stützen.

„Nein. Verschwende keine Wörter. Du hast versagt! Du hättest ihn beschützen müssen." Meine Zähne knirschten, so fest biss ich sie zusammen. Die Haut an meinen Wangen begann zu brennen, als immer mehr salzige Tränen sich dazu entschieden, ihren Weg über sie zu bahnen. „Ich... Ich will keinen von euch mehr sehen", sagte ich tonlos und wandte mich ab. - Depression.

„Bleib hier", versuchte Niall mich zu stoppen.

Ich sah zu ihm auf, auch wenn ich durch den Tränenschleier nur noch seine Konturen erahnen konnte. „Er war zu gut für das hier. Zu gut für euch. Aber ich... ich werde ihn immer in Ehren halten" nuschelte ich völlig neben mir, zu mir selbst. - Akzeptanz.

„Komm mit mir", forderte Niall mich auf, aber ich dachte gar nicht daran, irgendwo hinzugehen. Ich versuchte meinen Arm aus seinen Fängen zu befreien, scheiterte jedoch. Ich hatte meine Kraft verloren. Meinen Antrieb.

„Du würdest uns keinen Glauben schenken, also sollst du es mit eigenen Augen sehen", klärte er mich mit dunkler Stimme auf. Mein Widerstand ließ nach und somit zog Niall mich hinter sich her, durch die erste Sicherheitstüre. Ich musste mich ablenkten. Also begann ich damit, meinen leeren Kopf mit Eindrücken aus meiner Umgebung zu füllen.

Wir gingen unseren üblichen Weg, sofern ich das in diesem Labyrinth ausmachen konnte. Wir traten in den Fahrstuhl, wie wir es sonst auch immer taten, doch diesmal hielten wir nicht in dem mir bekannten Stockwerk. Stattdessen brachte uns der Aufzug immer tiefer. Das Licht, das den winzigen beweglichen Raum erhellte, begann zu flackern. Ich sah zu Niall. Sein sonst so fröhliches Gesicht, von dem nahezu immer ein Lächeln abzulesen war, war nun zu einer ausdruckslosen Maske erstarrt. Würde ich es nicht besser wissen, würde ich sagen, das hier, war der Anfang eines Horrorfilms.

Der Fahrstuhl glitt immer tiefer. Doch plötzlich hielten wir ruckartig an. Die Türen öffneten sich und Niall trat vor mir aus dem Aufzug. Zögernd tat ich es ihm nach.

Mit einem lauten Zischen sprang das Licht an. Ich sah mich um, auch wenn ich es gar nicht wollte. Neonröhren leuchteten spärlich den Weg aus. Ihr Surren war das einzige Geräusch, das hier unten nicht verschluckt wurde. Von den vielleicht einst schönen Wänden bröckelte mittlerweile der Putz. Spinnen und andere Sechsfüßer krabbelten an ihnen entlang. Der Boden unter meinen Füßen war nicht wie in den anderen Etagen aus Linoleum, sondern bestand lediglich aus Erde.

Meine visuelle Erkundungstour schien beendet, als der blonde Wärter voranschritt. Ich beeilte mich, um nicht zurückzubleiben. Immer wieder wischte ich mir über mein Gesicht, um meine Wangen zu trocknen.

Die Gänge hier unten waren kürzer, doch sie wiesen wesentlich mehr Kreuzungen und Gabelungen auf. Auch Nialls Orientierungssinn schien hier auf die Probe gestellt zu werden. Nach mehreren Wegminuten trafen wir auf unser erstes Hindernis, welches in Form einer speziellen verschlossenen Brandschutztür in Erscheinung trat. Niall zog seine Schlüsselkarte durch. Die Tür gewährte uns Durchlass. Ich tätigte meinen ersten Schritt und war überrascht, als meine Füße auf festen Boden trafen.

„Das hier nannte man früher schlichtweg die Katakomben", waren die ersten Worte die der Wärter seit längerer Zeit zu mir sprach.

Sofort sah ich mich um. Es war das komplette Gegenteil zu dem Gang zuvor. Das hier war eine wahre Betonfestung. Alles schien mit diesem Zeug ausgekleidet worden zu sein. Kein Stück Holz, kein Textil. Alles war aus Beton und Stein. Ich erkannte Türen und las deren Beschilderung.

Ein Wort war furchteinflößender als das andere.

»Krematorium.«

»Aufbahrungshalle.«

Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken. Wohin wurde ich gebracht? Ich zitterte am ganzen Leib, aber ich kannte die Ursache nicht. Vielleicht war es die zunehmende Kälte, die Angst oder doch der Schock, der tief in meinen Knochen eine Heimat fand.

Wir gingen weiter. Das Echo, das unsere Schritte verursachten, eilte uns voraus.

Dies schien der letzte Gang zu sein, den das Luminal zu bieten hatte. Am Ende des flurartigen Raumes gab es keine Möglichkeit mehr abzubiegen. Niall blieb mit mir vor den letzten zwei Türen stehen. Mit einer Handbewegung fixierte er meinen Blick auf die, die rechts von mir lag. Wieder las ich die Aufschrift. »Ausbildung.«

„Hier wurde Harry sechs Monate vorbereitet und ausgebildet", begann Niall zu erzählen. „ Als Marley, die Leiterin der Anstalt, du hast sie schon kennengelernt... uns erzählt hat, das sie einen falschen Häftling einschleusen will, dachte ich mir, niemand wäre dumm genug, diesen Job anzunehmen." Es fiel mir schwer seinen Worten zu folgen. Ich hörte sie und erkannte die Bedeutung, die in ihnen innewohnte, aber trotzdem unternahm mein Verstand keinen Versuch, ihnen einen Sinn zu entnehmen.

Ein flüchtiges Lächeln trat auf Nialls Lippen. „Keine zwei Wochen später saß Harry vor mir. Ein begnadeter Künstler, der es fertig brachte die Besten der Besten in seinen Bann zu ziehen und sie zu täuschen. Intelligent wie kein Zweiter, aber dennoch dumm genug, einen Job anzunehmen, der ihm das Leben kosten würde. Es war mir von Anfang an klar, nur ein Wunder würde Harry hier wieder lebend rausbringen." Seine Mimik war schwer zu deuten.

„Ich weiß, meine Ansichten sind für dich nicht von Belangen, Louis. Was für dich wichtig ist, liegt hinter dieser Tür." Niall trat zur Seite und ermöglichte meinem Blick so die Aufschrift der letzten Tür zu lesen.

Schachmatt || LarryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt