{30. Kapitel}

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Hysterisch begann ich zu lachen. „Deine Witze waren noch nie gut, aber dieser war mehr als nur schlecht, Harry."

Doch der Blick des Lockenkopfs veränderte sich nicht. Die Ernsthaftigkeit blieb erhalten.

Mein Lachen erstarb schlagartig. „E-es ist kein Witz?"

Er schüttelte den Kopf.

Ich öffnete meinen Mund und rang nach Luft. Alles Blut sackte in meine Beine. Mir wurde schwummrig. Meine Augen konnten nichts mehr klar fokussieren. Wild glitten sie umher.

Harry eilte auf mich zu. Zumindest dachte ich das. Ich sah ihn dreimal. Ich wusste nicht, welcher von diesen drei Harrys, der echte war. Die Arme des Lockenkopfs fassten nach mir und gaben mir halt. Vorsichtig platzierte er mich auf dem Stuhl. Ich saß bereits und dennoch wich er keinen Zentimeter von mir weg. Er stand immer noch direkt neben mir und hielt mich fest.

„Lou. Kannst du mich hören?". Harrys Stimme drang nur verschwommen bis an den Rand meiner Wahrnehmung. Ich wollte antworten, aber mein Verstand war mit anderen Dingen beschäftigt. Er setzte die wenigen Puzzleteile zusammen, die ich hatte.

Harry hatte keinen Fluchtversuch unternommen und zeigte auch keine Reue, weil es nichts gab, vor dem er floh oder weswegen er Reue zu zeigen hatte. In seiner Akte war nichts über seine Vergangenheit niedergeschrieben. Nicht, weil er nicht darüber sprach, sondern weil es absichtlich weggelassen wurde.

„Lou. Bitte sag etwas."  Erst als Harry mein Gesicht in seine warmen Hände nahm, fand ich aus dem dunklen Tunnel zurück, den meine Gedanken gebildet hatten.

„Du hast mich die gesamte Zeit über angelogen", sagte ich, immer noch ins Nichts starrend.

„Ich musste."

Ich schnaubte. Ich kniff meine Augen zusammen und griff mit Daumen und Zeigefinger an meinen Nasenrücken. „Ich habe dir so viel von mir erzählt..." Harrys lautes Ausatmen unterbrach mich. Er ging vor mir in die Hocke und hielt sich an meinen Knien fest, wie er es einst schon tat.

„Die Ärzte meiner Mutter diagnostizierten eine seltene und schwere Nervenkrankheit, die es ihr unmöglich machte arbeiten zu gehen. Nur eine spezielle Hormontherapie könnte sie von ihrem Leid erlösen, aber wir hatten kein Geld. Meine zwei Jobs und der meiner Schwester Gemma reichte gerade so für die Miete und Lebensmittel", begann Harry mir seine Geschichte darzulegen. Unbewusst hatten wir die Rollen getauscht. Ich starrte stumm vor mich hin, während Harry zu mir sprach. „Eines Tages kam ein Mann zu mir in die Bäckerei, in der ich arbeitete. Er telefonierte. Zwischen seinen Worten, die er ins Telefon sprach, ließ er mich wissen, was er haben wollte. Er legte eine Akte auf dem Tresen ab, als er nach seinem Geld kramte. Es waren Papiere über eine Sicherheitsanlage. Sie enthielt einen groben Fehler. Welchen ich erkannte und das obwohl ich nur die erste Seite überflogen hatte. Ich nannte dem Mann meine Erkenntnis..." Harry schnaubte in Gedanken kurz auf. „...Aber er hat mich nur ausgelacht. Ich wusste, er würde wieder kommen. Und ich behielt Recht. Keine Woche später stand er wieder vor mir. Nur diesmal nicht mit einer Akte, sondern mit einem Jobangebot. Zuerst lehnte ich ab, doch dann nannte er mir die Summe, mit der ich entschädigt werden würde. Mit dem Geld konnte meine Mutter locker die Therapie bezahlen, Gemma ihren Job kündigen, sie könnten in eine bessere Wohnung ziehen und vielleicht sogar das erste Mal in den Urlaub."

Harrys zuvor so verträumtes Lächeln erstarb mit seinen nächsten Worten. „Also willigte ich ein. Kaum hatte ich unterschrieben, wurde ich schon eingepackt und mitgenommen. 6 Monate wurde ich ausgebildet. Nahkampftechniken, Selbstverteidigung... und ich hatte meine Rolle einzustudieren. Anfangs hatte ich sogar einen Tarnnamen. Aber ich konnte mich nicht damit anfreunden, ich bekam es einfach nicht auf die Reihe, dass ich drauf reagierte." Harry verstummte für einen Moment und nahm zögernd meine Hände in seine. Sanft strich er meine Finger entlang.

„Was ich nicht wusste war, dass sie meinen Tod vortäuschen würden." Der Lockenkopf sah mich an. „Es hieß, ich stürzte an einer Aussichtsplattform, durch ein porös gewordenes Geländer, 17 Meter in die Tiefe und starb durch einen Genickbruch. Es gab eine Beerdigung und sogar eine Leiche. Niemand sollte den Luminal-Harry mit dem Unfall-Harry verbinden."

Darum wurde er also nie besucht.

Er lachte kurz auf. „Auch wenn das alles überflüssig war. Keiner kennt die Insassen des Luminals außer Polizisten und eine Handvoll Ärzte und Psychologen." Harry hatte sich mittlerweile auf den Boden gesetzt und sein Kinn auf meinem Knie gebettet.

„Gemma und meine Mutter bekamen das Geld, es wurde behauptet, es sein von der Versicherung. Ja und dann... dann wurde ich inhaftiert. Zuerst diente ich nur als Informant für die Leitung der Anstalt. Die Kameras durften nicht überall angebracht werden, also brauchten sie meine Augen und Ohren. Irgendwann war beobachten nicht mehr nur meine einzige Aufgabe. Wurde ein Häftling oder sogar ein Wärter getötet, so war es meine Aufgabe den Schuldigen zu finden."

Der glatzköpfige Häftling war wohl einer dieser Schuldigen.

„Dass ich Polizisten in ihren Fällen unterstütze war eigentlich nicht vorhergesehen. Aber durch meinen hohen IQ und die Tatsache, dass ich mit Leichtigkeit jede Art von Mensch manipulieren konnte, egal ob leichtgläubig oder nicht, wurde man schnell auf mich aufmerksam.

Nach zwei Jahren war das Programm für mich zu Ende. Aus Sicherheitsgründen durfte ich meine Familie in den nächsten 1 ½ Jahren nicht sehen oder zu ihnen Kontakt aufnehmen. Ich würd wieder einen neuen Namen bekommen und musste selbst sehen wo ich bleibe. Das Luminal hatte keine Vorkehrungen für ein Leben nach meiner Inhaftierung vorgenommen. Also beschloss ich, ein weites Jahr hier zu bleiben, bis ich einen Plan hatte, was ich danach tun würde. Doch aus diesem einen Jahr wurden zwei. Die anderen Wärter wurden zu meiner neuen Familie und das Luminal zu meinem Zuhause."

Plötzlich veränderte sich Harrys Körperhaltung. Man konnte praktisch nicht nur sehen, wie sich all seine Muskeln anspannten, sondern es auch hören. Ein dunkles Lächeln trat auf seine Lippen.

Schachmatt || LarryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt