{28. Kapitel}

5K 516 43
                                    

Die nächsten Tage verbrachte ich damit, mich über alle möglichen Symbole, Gesten und Zeichen zu informieren. Meine Wohnung glich einer alten Bibliothek. Überall stapelten sich meterhoch Bücher und Nachschlagewerke. Aber ich wurde einfach nicht fündig. All meine Anhaltspunkte verliefen in einer Sackgasse. Nichts war dem ähnlich, was Harry an diesem Tag mimte.

Zu meinem letzten Befragungstermin mit Harry war ich nicht erschienen. Ich war seit dem Vorfall nur einmal im Luminal gewesen. Um das Videomaterial zurückzubringen, dabei sah ich weder Noam in die Augen, noch einem der Wärter.

Ich fing langsam aber sicher an durchzudrehen. Mein Verstand verschwand in unendliche Tiefen. Ich hielt es nicht für möglich, dass mir das jemals passieren könnte. Doch nach und nach glitt mir alles aus den Fingern. Und ich konnte nichts dagegen tun, außer dabei zu zusehen. Meine Kopfschmerzen waren zu meinem ständigen Begleiter mutiert. Der Fall schien mich langsam zu verschlingen.

Harry war die gesamte Zeit über mein Ruhepol. Und jetzt? Ich war alleine und am Ende. Etwas in mir wollte ihm glauben. Wollte glauben, dass er es nicht war. Doch dann sehe ich wieder das Phantombild vor mir. Klar er hatte Recht, es war ungenau, aber die wenigen Details die es enthielt, waren in Harrys Gesicht wiederzufinden. Und dann war da noch dieses mysteriöse Symbol. Selbst wenn Harry nichts mit dem Fall zu tun hatte, dann schien es immer noch etwas zu geben, von dem nur bestimmte Personen etwas wissen durften. Und ich war keiner dieser Personen.

Heute wäre meine nächste Befragung, aber ich entschied mich erneut nicht hinzugehen. Stattdessen saß ich in einem Park, in der Nähe meiner Wohnung. Ich rieb mir die Schläfen, um für einen kurzen Moment den Druck in meinem Kopf zu lindern.

Ich ließ meine Augen schweifen. Ein Jogger, eine alte Frau, die in ihr Kreuzworträtsel vertieft war und ein Mann im Anzug, der herzhaft in sein Mittagessen biss. Dann fiel mein Blick auf eine Frau und ihr Kind. Das Kind saß in der Wiese und riss Gänseblümchen ab, welche es dann der Mutter reichte, die auf dem Baumstumpf, eines vor längerer Zeit gefälltem Baumes saß. Die Frau bedanke sich, aber nicht mit Worten, sondern mit Zeichen. Ihr Kind dürfte wohl gehörlos sein, weshalb sie über Gebärdensprache kommunizierten.

Ich sah ihnen eine Weile verträumt zu, bis mein Verstand endlich Verknüpfungen anstellte. Ich erhob mich und ging zu ihnen.

„Entschuldigen Sie, Ma'am" sagte ich vorsichtig, als ich an sie herantrat.

Der Kopf der Mutter schrecke hoch. Aus rehbraunen Augen sah sie mich an. „Ja?"

„Mein Name ist Sergeant Louis Tomlinson." Als sie meinen Dienstgrad hörte, straffte sie ihre Schultern und sah mich mit aus aufgerissenen Augen an. „Es ist alles in Ordnung, Ma'am", versuchte ich sie zu beruhigen. „Ich habe nur gesehen, dass sie in Gebärdensprache kommunizieren."  Ich deutete zu ihrer Tochter, welche noch immer keine Notiz von mir genommen hatte. Herzhaft riss sie weiterhin die Gänseblümchen aus der Erde.

Der Gesichtsausdruck der Frau entspannte sich, als sie ihren Blick auf ihr Kind richtete. „Ja, meine kleine Bailey ist taubstumm." Sie streckte ihre Hand aus.

Bailey hob ihren Kopf an und schenkte mir ein strahlendes Lächeln, als sie mich sah. Ich konnte nicht andres, ich musste es erwidern, auch wenn mir schon lange nicht mehr zu Lachen zumute war.

„Ich bräuchte ihre Hilfe. Sagt Ihnen dieses Symbol etwas?" Ich tat mit meinen Händen dasselbe, das Harry auf dem Video tat.

Bailey schien es sofort zu erkennen. Sie armte es mehrfach nach und klatsche freudig in ihre kleinen Hände. Ihre Mutter wandte sich mit einem Lächeln zu ihr. „Ja Schatz, eine Ratte" sprach sie für mich und gestikulierte sie für ihre Tochter. „Damit wird eine Ratte, das Tier, symbolisiert", erklärte die junge Frau nun formeller an mich gerichtet.

Ich konnte es nicht fassen. Es war so einfach.

„Vielen Dank, Sie haben mir gerade wahnsinnig geholfen," sagte ich erleichtert und voller Enthusiasmus. Ich drückte kurz die Hand der Mutter bevor ich mich zu Bailey in die Wiese kniete. Sie reichte mir eine ihrer Gänseblumen. Erfreut nahm ich sie an. Lächelnd sah ich zu dem kleinen Kind. Ich streckte die Finger meiner rechten Hand aus, hob sie an mein Kinn und zog sie nach vorne weg. Es war das einzige Symbol, welches ich gebärden konnte. Es stand für Danke.

Mit meinen neu errungenen Erkenntnissen, wagte ich mich zurück in die Höhle des Löwen.

Ich wusste nicht warum, aber ich hielt den Atem an, als ich langsam einen Fuß nach dem anderen in die Glaszelle setzte. Harrys Kopf war nach unten gerichtet. Sofort rutschte das Disziplinarverfahren in meine Erinnerungen, für welches ich verantwortlich war. Was hatten sie ihm womöglich an getan?

Ich ließ meine Augen über seinen Körper wandern, um mögliche Verletzungen zu erkennen. Seine Hände waren auch heute wieder in Handschellen gelegt. Auch seine Fußknöchel zierte eine schwere Eisenkette. Sein Brustkorb wurde mit einem Gurt an der Rückenlehne des Stuhls festgeschnürt. Sein Kopf war somit das einzige, das er ungehindert bewegen konnte. Auch seine Haare hatten sie ihm zusammengebunden.

Ich stand hinter meinem Stuhl. Verloren tippte ich mit meinen Fingerkuppen auf dem Hartplastik herum, aus dem er gefertigt war. Ich holte hörbar tief Luft, um ihm so zu signalisieren, dass ich gleich etwas sagen würde. Aber Harrys Kopf hing weiter nach unten. Er hob ihn nicht an. Wagte keinen Blick. Nicht einmal, wenn ich mich bücken würde, könnte ich seine Aufmerksamkeit einfangen.

Schachmatt || LarryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt