{59. Kapitel}

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Ich nickte, als könnte ich Harrys Worte nachvollziehen. Krampfhaft versuchte ich sachlich zu bleiben. „Hunter sprach davon, dass du deine erste Chance bereits vertan hast. Was meinte er damit?"

Harry stieß kraftvoll die Luft aus, die sich in seinen Lungen befand. „Ich kannte Hunter nicht und ich wusste auch nicht wer Haydon war. Man nannte mir keine Namen. Hunter selbst war kein einziges Mal im Luminal gewesen. Alles lief über seine Mittelsfrau. Die Informationen über meine Zielperson waren spärlich. Man sagte mir, er würde direkt auf mich zukommen. Ich würde erkennen wer er war." Der Lockenkopf sah zu Boden, sein Blick wirkte leer und verloren.  „Aber ich tat es nicht. Haydon sprach mich an und prahlte damit, meine wahre Identität zu kennen. Doch ich realisierte erst, das er meine Zielperson war, als Zayn mich schon von ihm runtergezogen hatte und es somit zu spät war." Ich musterte Harrys schwer zu erkennende Gesichtszüge. Seine Sorgenfalte trat markant hervor.

Harry verstummte. Sein Blick war nach wie vor auf den Boden gerichtet. Sein Körper war angespannt. Er war aus seinen tiefen Erinnerungen noch nicht wieder gekehrt. Also konnte dies auch noch nicht das Ende seiner Geschichte sein.

Sein tiefes Luftholen bestätigte meine Annahme. „Ich war damals nicht bei Gemma. Ich war bei Hunter, um ihm zu sagen, dass ich seinen Bruder nicht befreit habe. Es schien ihm gleichgültig zu sein, aber das war eben seine Masche. Seine Emotionen waren nie echt. Er wirkte so ruhig, er wollte mich in Sicherheit wiegen. Aber ich wusste, er würde mich dafür bluten lassen." Harry strich über seine Verletzungen. „Also habe ich diesen Streit mit dir provoziert. Ich wollte dich aus der Wohnung locken. Denn jeder Schritt, den Hunter in meine Richtung machen würde, war ein Schritt zu nah zu dir. Ich wollte dich in Sicherheit wissen, Lou. Und wo wärst du sicherer, als auf dem Revier, weit weg von mir."

Als seine Worte verstummten erhob ich mich. Meine Kniekehlen knacken, als ich meine Beine durchstreckte. Harrys Blick folgte meinen Bewegungen. Seine Augen spiegelten all den Schmerz, den er empfand.

Ich lief einige Schritte. Meine Arme hielt ich vor der Brust verschränkt. Ich fühlte, wie zittrig meine Hände waren. Ich krallte meine Finger in meine Haut. Ich wünschte mir, Harrys Worte würden langsam zu mir durchsickern, aber das taten sie nicht. Sie brachen förmlich über mich herein.

Meine Stimme versagte, als ich zu sprechen versuchte. Ich räusperte mich. „Du...Du sagst mir also, dass man dir einen Deal angeboten hat, welchen du aber ablehntest. Doch als Regierungsbeamte dich als geistig abnorm einstuften, sagtest du Hunter zu, um der Anstalt zu entfliehen. Er fälschte deine negativen Gutachten und im Zuge dessen solltest du Haydon zur Freiheit verhelfen. Aber das hast du nicht getan. Weshalb Hunters Männer in meine Wohnung kamen, um dir Schmerzen zu zufügen..."

Harry nickte schwach. Er gab mir die Bestätigung, die ich nicht wollte.

Ich blinzelte hektisch, um meine Sicht zu klären, welche durch aufkommende Tränen zu verschwimmen drohte. Mir wurde kalt und dennoch fühlte ich eine immense Hitze. Ich stütze meine Hände auf meine Knie, als richtiges Luftholen zu einer unüberwindbaren Hürde zu werden schien.

Alles was Harry getan hatte, wiedersprach dem wofür ich stand. Meine Moralvorstellungen sollten mich dazu zwingen ihn sofort und auf der Stelle zu verhaften. Aber ich zog es keine Sekunde in Erwägung. Stattdessen wollte ich etwas ganz anderes. „Was können wir tun? Wir müssen Hunter loswerden." Aufgekratzt lief ich umher. „Aber dann bleibt noch die Regierung. Was ist wenn sie das mit der Fälschung rausfinden?"

Harry sprang auf seine Beine und stand in Sekundenschnelle vor mir. Er packte mich an den Armen und brachte mich so zum Innehalten. Kalter Wind umspielte uns.

Wir unternehmen gar nichts! Das ist mein Kampf und nicht deiner, Louis." Ich lehnte mich in seiner Umklammerung zurück, um Harry ins Gesicht sehen zu können. Zorn war zu erkennen. „Ich bitte dich. Ich habe dich angelogen, was meine Entlassung anging. Ich habe gelogen, als ich sagte, dass ich mich mit Gemma getroffen habe. Ich habe einen Streit provoziert, um dich aus deiner Wohnung zu locken. Habe all diese schrecklichen Dinge zu dir gesagt. Ich habe Regierungsdaten gefälscht. Und dir obendrein auch noch verschwiegen, dass ich weiß, dass es sich bei Hayhon Hunter um Zwillingsbrüder handelt.... Louis, DAS ist der Moment, in dem du mir ins Gesicht schlagen MUSST!" Sein Griff um meine Arme verstärkte sich. „Balle deine Hand zu einer Faust und schlag so fest zu, wie du nur irgendwie kannst. Und dann... Dann hau ab. Hau ab und verhindere, dass ich je wieder in deine Nähe komme!" Harrys Blick war voller Verzweiflung. Seine Worte rissen mich entzwei.

Ich öffnete meinen Mund, aber kein Ton entstand. Ich war verstummt. Gerade in dem Moment, in dem ich sie am meisten brauchte, raubte mir der Schock die Stimme. Ich konnte meinen Willen nicht in Worte kleiden. Ich richtete mein Haupt empor. Der zuvor noch so klare Himmel verdunkelte sich, als ein klassisches Sommergewitter aufzog. Die leichte Brise an kalter Luft verstärkte sich. Da ging auch schon Regen auf uns nieder. Erbarmungslos prasselte er auf unsere Köpfe. Binnen wenigen Minuten war ich vollständig durchnässt. Mein nasses Haar klebte in meinem Gesicht. „W-wir schaffen das!" stotterte ich völlig neben mir.

„Harry, wir schaffen das!" Er reagierte nicht. Das Brausen des Windes verschluckte Teile meiner Wörter. „Hörst du mich? Wir schaffen das irgendwie. So wie wir alles bis jetzt geschafft haben!" Hektisch glitt mein Blick über Harrys Silhouette.

Aber dieser schüttelte lediglich seinen Kopf. „Nein, du verstehst es nicht, Louis...Ich habe bereits verloren. Aber du nicht. Dein Leben ist wertvoll. Du darfst nicht bei mir bleiben, das wäre dein Untergang." Sein Gesichtsausdruck konnte kaum gequälter sein.

„Was, nein...ich... Das kannst du nicht verlangen!"

„Ich muss. Für die Regierung bin ich durch die negativen Gutachten nur noch ein abtrünniger Luminalhäftling. Und du weißt was das bedeutet."

Ja, ich wusste was das zu bedeuten hatte. Gefahr der höchsten Stufe. Kein Warnschuss in die Luft oder in den Boden. Nein. Ohne zu zögernd würde man Harry in den Kopf schießen. Blut würde vergossen werden und dabei würde es niemanden interessieren, ob Harry einst auf der Seite der Guten war. Sie sehen was sie sehen wollen. Und das wäre eben ein Luminalwärter, der durch seinen Betrug die Seiten gewechselt hat.

„Louis, wenn du bei mir bleibst... dann...dann machen sie dasselbe auch mit dir." Harry strich sich sein nasses Haar aus dem Gesicht. Tränen, welche ihm über die Wangen liefen wurden offenbart. „Ich war viel zu selbstsüchtig. Aber das muss jetzt ein Ende haben. I-ich kann...ich kann dein Leben nicht noch weiter ruinieren. Also geh, Bitte. Geh! Hau ab!" Harry brachte die ersten Schritte an Abstand zwischen uns. „Geh endlich!"

Die Vorstellung, eines Lebens ohne ihn zerriss mich innerlich. Jeder weitere Zentimeter, den Harry zwischen uns brachte, ließ den Riss größer werden.

„Nein!", rief ich ihm lauthals entgegen. Ich wollte nach Harrys Hand greifen, aber ich fasste ins Leere.

„VERSCHWINDE!" Der Schmerz, der in seiner Stimme lag ging auf mich über und schnürte mir förmlich den Brustkorb zu.

„NEIN!" schrie ich erneut.

„WARUM NICHT?"

Ein Blitz erhellte den schwarzen Himmel. Das entfernte Donnergeröll wurde lauter. Regen schien mittlerweile von allen Seiten zu kommen.

Meine Tränen vermischten sich mit den Regentropfen. Zusammen bahnten sie sich einen Weg über mein Gesicht. Ich sammelte die letzte Kraft, meines müder werdenden Körpers „WEIL ICH DICH LIEBE!"

Schachmatt || LarryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt