{49. Kapitel}

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Mit dem Mond, der seinen Platz mit der Sonne tauschte, war auch Harry verschwunden.

Ich brauchte meine Augen nicht zu öffnen, um zu wissen, dass seine starke Präsenz erloschen war. Harry lag nicht mehr neben mir. Seine Seite des Bettes war leer und kalt. Wodurch mir klar wurde, dass ich schon seit längerem alleine sein musste.

Seufzend erhob ich mich. Ich ging ins Badezimmer, um mein übliches morgendliches Ritual zu vollziehen. Anschließend stieg ich in frische Kleidung und schlurfte Augenreiben in die Küche.

„Guten Morgen", wurde ich dort mit tiefer, aber melodischer Stimme begrüßt. Ich nahm meine Hände von meinen Augen und sah in Harrys lächelndes Gesicht. „Ich weiß, es war nicht sehr charmant von mir, dich alleine wach werden zu lassen. Verzeih mir." Er zog mich an meiner Hüfte zu sich. „Das, in der Anstalt, frühe geweckt werden, hat sich wohl in meinen Biorhythmus eingebrannt." Ein zarter Kuss auf meine Stirn folgte.

„Wie lange bist du denn schon wach?" wollte ich wissen.

Schulterzuckend verlautbarte Harry seine Antwort. „Zwei Stunden... Vielleicht auch mehr. Ich weiß es nicht, mein Sinn für Zeit ist noch nicht wieder zurückgekehrt." Er strich seine Locken zurück, welche ihm ins Gesicht gefallen waren. Doch kaum hatten seine Finger sein Haar wieder verlassen, sprangen sie wieder dorthin, wo sie zuvor auch schon waren. Gespielt genervt rollte er mit den Augen.

Seine Aufmerksamkeit galt wieder mir. „Ich wollte dir eigentlich Frühstück machen. Aber ich scheitere an deinem Herd." Harry zog seine Lippen nach unten. Kurze Stille trat ein. „Und dann ist mir eingefallen, dass ich gar nicht weiß, wie man sowas wie Frühstück überhaupt macht." Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf. „Ähm, das klingt jetzt vermutlich ziemlich unbeholfen, aber... wo sind die Knöpfe bei dem Ding?" Unser beider Blick fiel auf den Herd.

Kopfschüttelnd schob ich Harry auf einen der Barhocker und nahm, statt ihm, den Platz am Cerankochfeld mit Touchdisplay ein.

Während ich mich um das Frühstück kümmerte, planten wir unseren Tag. „Mir wurde noch kein neuer Fall zugeteilt, also wartet nur Papierkram auf mich, der von Liam über ist", sagte ich. „Der kann aber noch warten. Wie wärs, wenn ich mir frei nehme und wir in die Stadt fahren, um dir Kleidung zu holen?"

Ich sah zu Harry, als er auch nach mehreren Minuten der Stille keine Reaktion auf meinen Vorschlag zeigte. Seine Mimik war für mich immer noch genauso unleserlich, wie vom ersten Tag an. Dennoch entging mir nicht, dass seine Körperhaltung angespannt und abweisend war. „Ja, das klingt toll", erwiderte er schlussendlich. Doch seine Miene blieb maskenhaft starr.

„Wir müssen nicht, wenn du dich dabei unwohl fühlst", versuchte ich die Situation wieder herunterzukühlen. Ich drapierte das fertige Rührei auf einem Teller und stelle es vor Harry ab.

„Ich möchte nicht, dass du denkst, mir mit deinem Geld irgendwelche Sachen kaufen zu müssen." Harry rührte mit der Gabel mehr in dem Essen herum, als dass er es wirklich zu sich führte.

„Ich habe dir gesagt, dass ich für dich sorgen werde und will. Und da gehört so etwas eben auch dazu. Du musst ohnehin schon mit viel zu vielen Dingen klar kommen. Lass mich dir helfen."

Harry gab seinen Widerstand auf und bedankte sich mit einem Kuss.

Ich fuhr mit Harry in eine kleine Einkaufsstraße, am anderen Ende der Stadt. Ich erhoffte mir wenige Menschen und Ruhe.

Die gesamte Fahrt über, schien ich angespannter als Harry zu sein. Keiner von uns beiden wusste, was auf uns zukommen würde.

Wie würde es für den Lockenkopf sein, sich nach all der Zeit wieder unter Menschen zu begeben? Könnte es gefährlich werden? Brauchte ich vielleicht einen Notfallplan, für den Fall, dass alles schief gehen würde und er nicht nur Gefahr für alle anderen, sondern auch noch für sich selbst wurde?

Unausgesprochen, aber dennoch deutlich spürbar hingen diese Fragen zwischen uns in der Luft.

Harry hatte mich. Und ich hatte ihn. Wir hatten uns. Wir würden es gemeinsam durchstehen und das wieder rum machte mich glücklich.

Wir näherten uns dem ersten Laden. „Erwähne deinen Nachnamen unter keinen Umständen", wies ich ihn an, bevor wir eintraten.

„Wieso sollte ich das auch in einem Kleiderladen tun?" Der Grünäugige legte seinen Kopf schief. „Lou, entspann dich. Es wir alles gut gehen." Beruhigend Lächelte er mich an. Sein Charme zeigte seine Wirkung.

Wir traten ein.

Harry stand für wenige Sekunden reglos dar. Seine Beobachtungsgabe war bemerkenswert. Ohne sich groß umzusehen, stach ihm bereits das ins Auge, was er wollte. Zielsicher bewegte er sich an den wenigen anderen Kunden vorbei und steuerte auf einen der Kleiderständer zu. An ihm hingen Hemden in allen Farben und mit den unterschiedlichsten Mustern. Blumen, Streifen,... Alles war vertreten.

Harrys Schritte waren lang und schnell, weshalb ich Mühe hatte ihm hinterher zu kommen. Als ich neben ihm ankam, hatte er bereits das erste Hemd in seiner Hand und beäugte es mit schief gelegtem Kopf. Ich konnte es selbst noch kaum in den Augenschein nehmen, da reichte der Lockenkopf es mir mit den Worten „ich mag es." Ich nahm es schmunzelnd an und Harry widmete sich wieder den Klamotten.

Im Gegensatz zu dem Taxifahrer an Tag 1, schien der Lockenkopf die Anwesenheit der anderen Menschen sehr wohl zu registrieren. Er beäugte passierende Kunde kritisch und war darauf bedacht, auf Abstand zu bleiben. Mein Pulsschlag wurde nach oben getrieben, als die Verkäuferin der Boutique mehrmals hartnäckig, an der Grenze zu penetrant, ihre Hilfe anbot und dabei Harrys Schulter berührte. Doch dieser bewahrte gekonnt seine Ruhe. Mit einem charmanten Lächeln auf den Lippen bedanke er sich für das Angebot, lehnte es jedoch höflich ab.

Erleichtert atmete ich auf. Alles würde gut gehen.

Begeistert strich Harry über die Hemden und erfühlte die unterschiedlichen Textilien, aus denen sie gefertigt waren. Der Stapel an Kleidung in meinen Händen wurde schnell größer. Auch ich suchte ein Outfit aus, von dem ich überzeugt war, es würde ihm gut stehen.

Doch wir wurden unterbrochen, als jemand hinter uns Kleidung samt Kleiderhaken fallen ließ. Ich nahm nicht sonderlich viel Notiz davon, doch Harry schon. Schlagartig stoppte seine Hand. Seine Gesichtszüge blieben entspannt und sein Blick war weiterhin nach vorne gerichtet, aber alles an ihm konzentrierte sich auf das, was hinter uns geschah.

Mein Radar schlug erst an, als ich eine Stimme „Harry?" krächzen hörte.

Schachmatt || LarryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt