Ich spannte meinen gesamten Körper an und zog meine Schultern automatisch nach oben, um so meinen leicht verletzbaren Hals zu schützen.
Der laute Knall löschte mein Hörvermögen aus. Alles was zurückblieb, war ein hoher Pfeifton. Alle anderen Geräusche wurden zur Gänze verschluckt. Der Geruch von verbranntem Schießpulver stieg mir in die Nase.
Den Atem anhaltend und mit zusammengekniffenen Augen wartete ich auf den Schmerz, der sogleich über meinem Nervenzentrum hereinbrechen würde.
Wie würde es sich wohl anfühlen?
Erwartete mich ein Brennen? Ein Stechen?
Ich hatte keine Ahnung. Keine Erwartung. Doch wie es schien, würde diese Wissenslücke weiterhin bestehen bleiben. Denn ich erhielt einfach keine Antwort auf meine Frage. Der Schmerz blieb aus.
Immer noch benommen sah ich an mir herunter. Ich erblickte kein Blut. Zittrig strichen meine Händen über die Kevlarweste. Aber ich erfühlte kein Eintrittsloch, welches eine Patrone hinterlassen hätte.
Was war passiert?
Ich konnte niemanden in der Badewanne ausmachen.
Aber dennoch wurde geschossen! Ich roch das verbrannte Schießpulver und ich hörte den Knall.
Hatte Liam auf Isabella geschossen? Hatte er die zierliche Frau verwundet?
Ich trat aus dem Badezimmer und scannte den Raum nach der Wohnungsbesitzerin ab. Ich vernahm keine Bewegung.
Als mein schwammiger Blick plötzlich über eine Gestalt stolperte.Ihr Gesicht war abgewandt, aber ich erkannte, dass es Isabella war. An ihrem Fuß lief eine Blutlache vorbei. Plötzlich riss sie ihren Kopf nach oben und verließ fluchtartig die Wohnung. Wie? Sie schien nicht verletzt zu sein. Feuerte Liam lediglich einen Warnschuss ab? Aber woher kam dann das Blut?
Das Klingeln meiner Ohren erschwerte mir die Konzentration. Ich hatte das Gefühl, alles verlief in Zeitlupe. Doch dabei ging alles Schlag auf Schlag.
Ich sah zurück wo sie gestanden hatte und erkannte Liam. Sein Mund war weit aufgerissen, als würde er schreien. Aber kein Laut drang bis zu mir. Ich konnte ihn nicht hören. Der hohe Pfeifton war zu präsent. Ich konnte ihn nicht aus meinen Ohren verbannen. Liams rechte Hand klammerte sich panisch um seinen Oberschenkel. Die Linke war zu einer Faust geballt.
Dunkelrot drang Blut aus einer Wunde. Er lehnte an der Wand und rutschte immer tiefer in die Blutlache, als sein Bein ihn nicht mehr tragen konnte.
Isabella war vergessen. Ich eilte zu Liam. Ich zog meinen Gürtel aus den Gürtellaschen, um ihm damit das Bein abzubinden. Ich sah auf seine Wunde. Schwallartig pumpte sein Herz das Blut aus seinem Körper.
Liam schüttelte schwach den Kopf, als ich mich neben ihn kniete. "Lauf! Du erwischt sie noch!" Dumpf drangen seinen Worte zu mir. Unabdinglich blieb ich an der Seite meines Partner. "Los jetzt!" brüllte er mich an. Sein Blick war schmerzverzerrt und dennoch erkannte ich, wie ernst es ihm war. Liam riss mir den Gürtel aus der Hand und drückte mich von sich weg.
Immer noch erstarrt erhob ich mich. Ohne mein Zutun setzten meine Beine sich in Bewegung. Ich lief los. Ich ließ ihn alleine. Ich ließ ihn in einer Situation alleine, in die ich ihn gebracht hatte.
Mein immer schneller werdender Pulsschlag trieb mich vorwärts. Ich stürzte zur Treppe. Bei meinen Weg, der mich abwärts führte, ließ ich mehrere Stufen aus. Isabella hatte das Treppenhaus noch nicht verlassen. Ich konnte deutlich ihre Schritte hören. Sie schien langsamer zu werden. Aber ich wurde schneller. So kam es, dass ich sie am vorletzten Treppenblock beinahe eingeholt hatte. Ohne an Tempo zu verlieren zog ich meine Waffe und richtete sie auf Isabella.
Schießt du auf meinen Kollegen, dann schieße ich auf dich!
Schwer atmend blieb ich stehen. Ich fokussierte und drückte einfach ab. Die Kugel wurde aus dem Lauf katapultiert. Wieder ertönte der ohrenbetäubende Knall. Aber diesmal war ich vorbereitet. Ich blinzelte nicht und zuckte nicht einmal mit einer Wimper.
Ich traf Isabella in der linken Kniekehle und schoss ihr so ein Stück ihrer Kniescheibe weg. Sie verlor ihr Gleichgewicht und stürzte polternd die letzten Stufen hinab. Ich sah dabei zu, wie ihr Blut einzelne Stiegen rot färbte.
Stöhnend blieb sie am Treppenabsatz liegen. Sie verrenkte ihren Kopf, um mich anzusehen. Ihre grünen Augen starrten zu mir hoch, als sie mir etwas zurief. "Eine Figur hab ich noch!" Ich nahm die Waffe nicht runter. Ich biss die Zähne zusammen. Eine Figur? Sie musste noch zwei haben. Dame und König. Nahende Polizeisirenen durchbrachen meinen Gedankengang.
Ein Kollege eilte auf sie zu, drückte ihren Oberkörper mit einem Knie zu Boden und fesselte ihre Arme. Ich wand mich ab und eilte zurück in die Wohnung.
Liam saß immer noch an Ort und Stelle. Die Blutlache hatte sich ausgebreitet. Die Kugel musste wohl seine Aorta zerschlagen haben. Sein Kopf schien schwer geworden zu sein, denn er hing kraftlos nach vorne. Sofort fiel ich neben ihm auf die Knie und nahm sein Gesicht in meine Hände, um seinem Kopf Halt zu geben. Seine Augenlider flackerten schwach. "Sie wird gerade abgeführt. Wir haben's geschafft. Der Terror hat ein Ende", sagte ich leise.
Ein sanftes Lächeln breitete sich auf Liams Lippen aus. Stotternd verließen seine Worte seinen Mund. "Es tut mir leid...dass ich gesagt habe, dass du von Harry abhängig bist." Er kämpfte gegen die sich ausbreitende Müdigkeit an.
Tränen bildeten sich in meinem Augeninnenwinkel. Wild schüttelte ich den Kopf. "Nein. Du hattest allen Grund zur Skepsis. Aber Harry ist..."
Liam stoppte mich. "Du vertraust ihm... also hätte ich das... auch tun sollen. Es tut mir leid, Lou... Ich hab dein Urteilsvermögen in Frage gestellt... und das nur weil du... einem Häftling vertraut hast...." Liam verschluckte sich an seiner eigenen Spucke, weshalb ich versuchte seinen Kopf etwas aufrechter zu halten.
"WO BLEIBT DER VERSCHISSENE SANITÄTER?" brüllte ich den Kollegen zu, die mittlerweile die Wohnung absperrten. Einer von ihnen erstversorgte spärlich Liams Wunde.
Liam schloss seine Lider. Ich rüttelte an ihm. "Bleib wach, komm schon." Eine Träne lief über meine Wange und tropfte auf sein Gesicht. Ein Grummeln verließ seine Kehle. "Sprich mit mir! Du darfst auf keinen Fall einschlafen!" Angestrengt musterte ich sein Gesicht. Er war blass. Schweißperlen standen auf seiner Stirn.
Liam stieß kraftvoll Luft aus, als unser Kollege an sein Bein fasste. „Pass gefälligst auf!" zischte ich ihn an.
„Ich muss die Blutung eben irgendwie stoppen oder willst du, dass er uns gleich wegstirbt?" versuchte der Angesprochene sich unsensibel zu rechtfertigen.
Ich wollte schon zu einer vernichtenden Antwort ansetzten, als Liams brüchige Stimme ertönte. „Lou.. beruhige dich. Es ist nur ein kleiner Kratzer. Ich werd's...überstehen."
Stumm sah ich auf die Unmengen an Blut, die Liams Körper bereits verlassen hatten. Mit meinem Ärmel wischte ich ihm die Schweißperlen von der Stirn. „Ja, es ist halb so wild. Du schaffst das", sagte ich sanft lächelnd.
„Du musst Harry aus dem Luminal holen", flüsterte er. „Er gehört da nicht hin."
„Wie kommst du jetzt auf das?" wollte ich wissen.
„Bevor ich zur Wohnung bin... bin ich nochmal zu Harry in die Zelle. Er hat mich angefleht... dich zu beschützen... weil er es nicht kann... Er wirkte voller Leid, Reue und Schmerz. Und dann hab ich's verstanden... Harry ist gar kein Häftling, oder?"
Liams Worte machten es mir unmöglich zu sprechen. Er erkannte Harrys Geheimnis, nach nur einer Befragung mit ihm. Er war ein so viel besserer Sergeant, als ich es je sein würde.
Langsam nickte ich als Bestätigung, aber seine Augen waren geschlossen, weshalb meine Antwort nur für den Kollegen ersichtlich war, der bei uns kniete.Ich erblickte die rot uniformierten Sanitäter. Ich nahm eine Hand von Liams Gesicht und winkte sie zu uns. "HIER! Wir sind hier."
Sie schoben mich von meinem Kollegen weg und hievten ihn auf die Bahre. Ich hielt seine Hand, die nach wie vor zu einer Faust geballt war. Es schien als hielte er einen Gegenstand in ihr eingeschlossen. Ich versuchte seine Hand zu öffnen, indem ich vorsichtig seine Finger aufbog. Um dann auf eine, von seinem Blut verschmierte, Dameschachfigur zu blicken.
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Schachmatt || Larry
FanfictionWas passiert, wenn der gefährlichste Insasse eines Hochsicherheitstrakts, zu deinem größten Vertrauten wird? Du fühlst dich genau bei der Person am wohlsten, bei der du es am wenigsten tun solltest. Larry Stylinson Cover by SPACE_BLAKK