{18. Kapitel}

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Der Realist in mir erwartete einen leeren Bus. Und der Pessimist einen Angriff.

Die weiße Schachfigur lag vor der letzten Stufe. Sie dufte beim Bremsvorgang wohl nachvorne gerollt sein.

Ich stand nun im Mittelgang.

Mein Blick glitt suchend umher. Zu meiner Überraschung war ich nicht alleine. Ich erhaschte sofort den verdächtigen Mann. Er saß in der vorletzten Reihe. Sein Oberkörper war leicht gegen die Fensterscheibe des Busses gelehnt, doch sonst war seine Haltung aufrecht. Durch das wenige Licht konnte ich sein Gesicht nicht erkennen. „Sir? Ich bin Sergeant Louis Tomlinson, vom Londoner Police Department. Halten Sie Ihre Hände so, dass ich sie sehen kann" rief ich gerade so laut, dass die Schallwellen bis an sein Ohr dringen konnten. Ich wartete ab, bekam jedoch keine Reaktion. „Sir?" wiederholte ich es.

Es blieb Still.

Ich setzte meinen rechten Fuß voran und zog meinen linken hinter her. Immer wieder sah ich in die einzelnen Sitzreihen, um sicher zu gehen, dass sich hier nicht eine weitere Person versteckt hielt. So bahnte ich mir meinen Weg durch den schmalen Mittelgang. Es schienen Stunden zu vergehen.

„Sir? Können Sie mich hören?" fragte ich, als ich nur mehr wenige Reihen von dem Mann entfernt war. Auch jetzt konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Seine Sitzposition und das wenige Licht waren meine Gegner. Ich fühlte den Druck des Griffsporns in meiner Daumenbeuge, als ich meine Waffe fester umschloss. Ich versuchte mich auf jede plötzliche Bewegung gefasst zu machen.

Mein Blick war weiterhin starr auf den Mann gerichtet, doch im Augenwinkel erkannte ich Liam. Er trat durch die andere Ausstiegstür, die parallel zum Mittelgang lag, in das Innere des Busses. Langsam bewegte ich mich wieder vorwärts, um so Liams Schritte durch meine zu übertönen.

„Sir? Können Sie mich verstehen? Ich möchte Ihre Hände sehen!" probierte ich es nochmals. Ich hielt die Luft an, um eine mögliche Antwort seinerseits nicht zu überhören. Aber der Mann wollte die erdrückende Stille einfach nicht durchbrechen. Sein Mund blieb verschlossen. Also musste ich eben zum nächsten Schritt übergehen.

Ich stelle mich so breitbeinig, wie es der schmale Gang eben zuließ, hin. Ich zog den Schlitten der Waffe zurück. Ein metallisches Geräusch war zu hören, als die Kugel in den Lauf rutschte. Ich richtete die Waffe nun direkt auf die Brust des Mannes und gab Liam ein Zeichen. Vorsichtig trat dieser näher heran. Zögernd streckte er seine Hand nach dem Verdächtigen aus und berührte ihn an dessen Schulter.

Diese Handbewegung schien so klein und hatte dennoch eine große Wirkung. Mein Zeigefinger glitt blitzschnell und nahezu automatisch vor den Abzug, als ich eine Bewegung vernahm. Ich war bereit zu schießen.

Der Kopf des Mannes sackte herunter und sein Oberkörper rutschte nach vorne, sodass er mit seiner Stirn am Sitz davor aufschlug. Liam und ich zuckten kurz zusammen und wichen einen Schritt zurück.

Mein Kollege war der erste, der aus diesem kleinen Schock wieder zurück fand. Ich sah seiner Hand dabei zu, wie sie seine Halsschlagader suchte. Mit Zeige- und Mittelfinger übte er Druck aus. Liams Miene war leer und ausdruckslos, als er zu mir hoch sah. „Der Typ ist tot."

„WAS?!" Ich steckte meine Waffe weg und überbrückte, mit schnellen Schritten, den letzten Abstand zu dem Mann. Grob riss ich sein Handgelenk an mich und tastete nach dessen Puls. Doch dieser war nicht mehr vorhanden.

Ich ließ, die bereits erkaltende Hand los und stürmte aus dem Bus. „Wo ist der verfickte Busfahrer?", schrie ich so laut, dass ich fühlen konnte, wie meine Halsvenen unter dieser Anstrengung hervor traten.

Ich konnte ihn sofort unter den Schreifenpolizisten ausmachen, die bereits mit der Befragung begonnen hatten. Ich packte ihn an seinem Kragen und riss ihn unsanft zu mir. „Wie kommt es, dass Ihre Fahrgäste sterben und Sie nehmen davon keine Notiz?" Meine Stimme wurde immer lauter. Schlagartig riss er seine Augen auf. Er zitterte noch immer. Ich wusste, ich sah gerade in das Gesicht eines traumatisierten Unschuldigen. „I-ich i-c-ch..." stammelte er darauf los.

„Gibt es eine Kamera im Bus?"

Der Fahrer schaffte es nicht, auch nur ein Wort zu sagen, weshalb er nur unkontrolliert seinen Kopf zu schütteln begann.

Liam packte mich an der Schulter und wollte mich von ihm wegholen. Ich leistete keinen Widerstand. Ich war ohnehin fertig mit ihm. Ruckartig ließ ich ihn wieder los, wodurch er nach hinten taumelte.

Ich wand mich an die Streifenpolizisten. „Ihr besorgt alle Überwachungsvideos, die den Bus nur irgendwie aufgezeichnet haben könnten. Achtet auf alles! Auf Spiegelungen in Schaufenstern, Seitenspiegel von Fahrzeugen, mir egal. Ich möchte wissen wann der Typ wo eingestiegen ist und wer in der Nähe war." Ohne auch nur auf eine Gegenreaktion abzuwarten, wand ich mich ab. Ich riss unachtsam am Klettverschluss meiner Schutzweste und warf sie schwungvoll auf die Straße.

„Beruhige dich wieder, Louis" hörte ich Liam durch zusammengebissene Zähne sagen.

Ruckartig drehte ich mich um und erstreckte ihn offenbar damit, was mir ein kurzes Zusammenzucken seinerseits aufzeigte. „Ich habe gerade mit geladener Waffe auf ein bereits totes Opfer gezielt." Ich schnaube, während ich in ein sarkastisches Gelächter ausbrach. „So weit ist es schon."

„Ich weiß, du wolltest ihn endlich drankriegen..."

„Merkst du gar nicht, welche Ausmaße das mittlerweile annimmt?" Ich war in Rage, aber dennoch bemühe ich mich Liam gegenüber einen ruhigeren Ton anzuschlagen. „Der Typ steigt lebendig in den Bus... und dann... dann verreckt er einfach."

„Vielleicht war es ein einfacher Herzinfarkt und der Mann hat nichts mit dem Fall zu tun. Die Gerichtsmedizinerin wird uns genaueres sagen können." Liams Worte beruhigten mich nicht im Geringsten.

„Ja klar Herzinfarkt. Und die Schachfigur?"

Liams Blick wirkte abgekämpft und müde. Er hatte eine genauso lange Nacht hinter sich wie ich. „Am besten du lässt dich von einem Kollegen heimbringen. Juliet ist sicher in Sorge."

Ohne nochmals etwas zu erwidern stampfte ich los.

„Wo willst du hin?" hörte ich Liam hinter mir rufen.

„Nachhause. Wie du es gesagt hast. Ich gehe zu Fuß. Die Nachtluft tut mir gut."

Der Mond verschwand und allmählich erkämpfte sich die Sonne ihren Platz am Horizont zurück. Ich war schon fast zuhause, als ich mein Smartphone in meiner Hosentasche vibrieren spürte. Bestimmt Juliet. Ich verdrehte dich Augen, zog es aber dennoch heraus.

Die Zahlen, die mein Display zeigte, reihten sich zu einer mir unbekannten Nummer zusammen.

Schachmatt || LarryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt