{62. Kapitel}

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Louis,

mein gesamtes Leben verbrachte ich damit, mich für andere aufzuopfern. Ich verzichtete auf Schlaf, um nachts zu arbeiten, damit meine Familie Geld für Lebensmittel hatte. Ich verwehrte mir die Chance auf einen Schulabschluss. Ich gab mich selbst auf, um für ihre Zukunft zu sorgen.

In der Anstalt riskierte ich täglich mein Leben, um das der anderen zu schützen.

Ich war mir selbst nie der nächste.

Doch mit dem Tag, als ich dich kennenlernte, wurde mein Blick klar und ich wusste, was ich wollte.

Ich wollte dich. Ich wollte ein Leben. Ein Leben mit dir.

Meine Liebe zu dir, belebte mich und schärfte meine Sinne. Und dennoch war ich blind. So oft durfte ich in dein perfektes Gesicht sehen, aber ich erkannte zu spät, welches Leid du durch mich zu ertragen hattest. Du musstest für meinen Egoismus bezahlen. Ich brachte dich in Gefahr. Ich sorgte für deine schlaflosen Nächte. Du verlorst deinen Fokus auf die Wichtigen Dinge, um meine Probleme zu lösen. Zu lange habe ich dein Leben riskiert.

Welch ein Mensch wäre ich, wenn ich das weiter zulassen würde? Es muss ein Ende finden.

Meine Erinnerungen an dich, halten mich am Leben. Panisch klammere ich mich daran fest. Doch du musst loslassen. Du musst mich vergessen, um das Leben leben zu können, welches für dich bestimmt ist.

Ich liebe dich.

- H.

Das sollte es also sein?
Das war das Ende von Harrys und meiner Geschichte?

Ich las diesen Brief so lange, bis ich es verstehen würde.
Bis ich Harry verstehen würde. Ich las ihn und las ihn.

Der Tag verschwand und die Nacht kehrte ein. So lange starrte ich auf dieses Stück Papier.

„Ich nehme noch einen", sagte ich, während ich auf den Rand meines leeren Glases tippte. An der Bar saßen keine weiteren Gäste. Nur ich. Weshalb mir der Barkeeper meinem Wunsch sogleich erfüllte. Kommentarlos legte der Mann eine Serviette auf den Tresen und platzierte anschließend darauf ein neu gefülltes Glas.

Die Hand, die sich nicht am Drink festhielt, umschloss Harrys Brief. Er war bereits an allen Ecken und Kanten verknittert. Ich ließ ihn zurück in meine Hosentasche gleiten. Ich brauchte die Worte nicht mehr zu lesen. Mittlerweile konnte ich sie auswendig. Sie hatten sich in meinen Kopf eingebrannt.

Seufzend löste ich die Serviette, welche aufgrund des Kondenswassers an der Unterseite des Glases haften blieb. Ich hob den Drink gerade an meine Lippen, als eine feminine Stimme zu mir sprach. „Na harten Tag gehabt?" Elegant ließ sie sich auf dem Barhocker neben mir nieder.

Nach einem verhaltenen Nicken meinerseits, kippte ich das Glas und ließ die Flüssigkeit in meinen Mund eindringen. Brennend floss der Alkohol meine Kehle hinunter.

„Ich nehme dasselbe, wie der Gentleman neben mir", hörte ich erneut die Stimme der Frau. Ich drehte meinen Kopf in ihre Richtung. Flüchtig sah ich sie an.

Sie sah aus, als wäre sie einem Märchen entsprungen. Ihr braunes Haar hatte einen rötlichen, beinahe bronzefarbenen Schimmer. Ihre Haut war von einer schönen natürlichen Blässe, als wäre sie aus Porzellan. Aber ihre Augen waren das Interessanteste an ihr. Sie nahmen jeden gefangen, der es wagte in sie hineinzusehen. Denn die Iris ihres linken Auges war dunkelbraun, während die des rechten Auges hellgrün war. Ihre einzigartige Erscheinung wurde durch einen genauso einzigartigen Namen abgerundet. „Ich bin Lillith", sagte sie zu mir.

„Louis", lies ich sie kurzangebunden wissen.

Lillith schwenkte die goldige Flüssigkeit in ihrem Glas umher, bevor sie es zu sich führte. Eiswürfel klirrten. „Probleme mit der Freundin?" wollte sie wissen.

„Freund" korrigierte ich sie, in vollster Knappheit.

„Verstehe". Abwesend strich sie mit ihrem Zeigefinger über den Rand des Glases. „Was hat er denn angestellt?"

Ich drehte mich zu ihr, ohne sie anzusehen. „Wie kommst du darauf, dass er es war? Könnte nicht auch genauso ich derjenige sein, der etwas verbockt hat?"

Sie zuckte mit den Schultern. „Nun ja, du bist es, der um 2 Uhr nachts in einer Bar sitzt. Den Drink anstarrend, als hofftest du, er würde dir Antworten auf Fragen liefern, die du ohnehin nicht hören willst."

Ich war aus nur einem Grund hier hergekommen. Ich wollte nicht in meinem Selbstmitleid baden. Ich wollte darin ertrinken. Ein Gespräch mit einer mir fremden Person, war vermutlich das letzte worauf ich abzielte. Aber dennoch sprach ich zu ihr. „Er...mein Freund... er hat eine Entscheidung getroffen, die ich nicht nachvollziehen kann."

Lillith strich ihr Haar hinter ihr Ohr. Ihr Blick war nach vorne gerichtet. „Menschen handeln aus den unterschiedlichsten Gründen. Liebe. Eifersucht. Gier. Geld. Die die verletzt werden, verschwenden ihre Zeit damit herauszufinden, welcher dieser Gründe alles ins Kippen brachte. Fast so, als wäre es deren Aufgabe, nur noch von Schuldgefühlen angetrieben zu werden. Auch wenn sie es waren, die eigentlich nichts falsches gemacht haben." Nun sah sie mich an. „Manchmal kann man nicht verstehen, man kann nur akzeptieren. Akzeptieren, dass es eben einen Grund gab, der stark genug war, um alles andere in den Schatten zu stellen und alles zu ändern." Mit der Vollendung ihres Satzes, leerte Lillith ihr Glas in einem Zug und stand auf.

„Warte", sprach ich etwas lauter, sodass sie mich in ihrer Bewegung dennoch hören würde. „Was ist mit dir?"

Sie drehte sich um. Fragend sah sie mich an. „Was soll mit mir sein?"

„Auch für dich ist es 2 Uhr nachts und auch du bist in einer Bar."

Ihre Lippen formten ein trauriges Lächeln. „Und auch ich wurde von Amor hintergangen." Lillith wandte sich ab und tätigte den ersten Schritt in Richtung Ausgang.

„Tut mir leid" nuschelte ich.

Lillith blieb stehen. „Nein, Louis. Entschuldige dich nicht für eine Handlung, die ein anderer begangen hat. Dir darf nichts leid tun. Die die einen Verletzten, denen soll es leid tun."

Der Alkohol ließ alles in einem dichten Nebelschleier versinken und dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, dass diese Begegnung noch eine alles entscheidende Rolle spielen würde.

Schachmatt || LarryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt