{70. Kapitel}

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Harrys Verhaftung lag nun schon wieder zwei Wochen zurück.

An keinem er vergangen Tage schaffte ich es genügend Mut aufzubringen, um ihn zu Besuchen. Tag ein, Tag aus stellte ich mir dieselben Fragen.

Warum zögerte ich? War es aus Angst? Oder vielleicht die Schande die ich empfand, weil ich Harry nicht helfen konnte? Oder das schlechte Gewissen, welches mir zuflüsterte, dass ich zu früh aufgegeben hatte? Dass da doch noch jemand war, der ihm hätte helfen können. Ein anderer Zeuge, der nur drauf wartete, von mir gefunden zu werden?

Diese Fragen liefen als Endlosschleife durch meinen Kopf. Es war ein Dauerprogramm. Keine Möglichkeit umzuschalten oder das Abo zu kündigen. Ich fragte mich immer und immer wieder. Und dennoch fand ich keine Antwort. Ich wusste es einfach nicht.

Und der wahre Grund meines Zögerns würde wohl immer in meinem Unterbewusstsein verschollen bleiben.

Ich musste die Endlosschleife durchbrechen.

Früh morgens war ich bereits auf den Beinen. Die ersten zarten Sonnenstrahlen vielen durch das dichte Geäst der Bäume. Das Licht ließ, das vom Tau noch nasse Gras, glitzern. Welch ein schöner Anblick, dachte ich mir. Wäre da nicht dieser Betonkoloss, der vor mir in die Höhe ragte. Große Scheinwerfer beleuchteten die Grundmauern und das umliegende Gelände. Die Fassade war grau und rustikal. Alles daran wirkte abschreckend. Meterhoher Maschendrahtzaun und massive Eisengitter vor den Fernster und Toren, verkündeten die Funktion dieses Gebäudes.

Meine zittrigen Knie und schweißnassen Hände versetzten mich zurück in eine Zeit, in der ich mit Harry meine ersten Befragungen hatte. Ich war jedes Mal so nervös und aufgeregt, wie noch nie zuvor in meinem Leben. Und auch heute waren es dieselben Empfindungen die mich überrannten, als ich dieses Gefängnis betrat.

Das Luminal war mir mit seinen Angestellten ans Herz gewachsen. Es war somit ein komisches Gefühl hinter dem Empfangsschalter nicht Noam vorzufinden.

Langsam trat ich auf die viel beschäftigt wirkende Frau zu. Sie hatte kein Lächeln für mich über, nicht so wie der freundliche Franzose. "Wie kann ich helfen?" fragte sie.

"M-mein Name ist Tomlinson, ich würde mich gerne für einen Besuch anmelden", stammelte ich vor mich hin, wie als hätte ich erst vor kurzem das Sprechen erlernt.

Sie behielt ihren Kopf weiterhin gesenkt. Doch sie war immerhin so nett, dass sie ihren Blick anhob. Über ihre Brille hinweg sah sie mich an. "Und wie lautet der Name des Insassen, den Sie besuchen möchten?" Die Abfälligkeit in ihrer Stimme ließ mich meine Nase rümpfen.

"Harry Edward Styles."

Sie drehte sich zu ihrem Computer und tippte wild auf der Tastatur herum. Ihre künstlichen Fingernägel erzeugten ein, mir den letzten Nerv raubendes, Geräusch. "Einen Moment, bitte."

Ich nickte, obwohl ich wusste, dass sie es nicht sehen würde. Ihr Fokus lag nach wie vor nicht auf mir. Ich drehte meinen Kopf nach links. Ein großes Fenster weitete mein Sichtfeld aus. Ich sah auf die eingezäunte Grünfläche. Einzelne Häftlinge in orangefarbenen Overalls waren zu sehen. Ein zartes Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus. Immerhin würde Harry hier die Sonne sehen.

Die Dame vom Empfang zog meine Aufmerksamkeit erneut auf sich. "Und Sie sind sich sicher, dass der Insasse Styles heißt?"

Ich legte meine Stirn in Falten. "Ja, natürlich bin ich mir sicher." Ich konnte den unfreundlichen Unterton meiner Stimme nicht verbergen.

"Dann sind Sie wohl im falschen Gefängnis. Wir haben hier niemanden mit diesem Namen."

Es war unmöglich. Juliet selbst teilte mir mit in welche Anstalt sie ihn bringen würden. Und es war genau diese, in der ich nun stand. Mein Verstand verbrauchte jegliche Energie, die meine Körper zu bieten hatte. Weshalb ich wie eingefroren da stand. Erst als die Dame mit ihrer Hand vor meinen Augen herumfuchtelte, fand ich zurück in das Hier und Jetzt. Ohne ein weiteres Wort zu sprechen, machte ich kehrt und ging davon. Noch bevor ich den Ausgang vollständig passiert hatte, zog ich bereits mein Smartphone aus meiner Hosentasche und wählte eine Nummer.

Der Tag war dabei sich zu verabschieden, um der Nacht platz zu machen. Ich saß auf einer Parkbank unter dem gelblichen Licht einer Straßenlaterne. Kleine Insekten wurden von ihrem Schein angezogen. Es war so leise, dass ich es zischen hören konnte, wenn sie zu nah an die heiße Glühbirne flogen.

Obwohl er seine Haarfarbe von Pink zu blutrot geändert hatte, erkannte ich ihn sofort. "Danke, dass du so schnell Zeit gefunden hast, Dom."

"Klar, kein Problem", er schenkte mir sein typisches Joker Grinsen. Beinahe mit Anlauf warf er sich zu mir auf die Bank.  Mit Elan schlug er seine Beine übereinander, wodurch seine Hose nach oben rutschte und die pinken Socken zum Vorschein kamen. Ich hörte ihn tief einatmen. "Ich hab' schlechte Neuigkeiten für dich."

Ein Gefühl des Unwohlseins breitete sich in mir aus. Ich wollte nachfragen, doch da kam mir Dom bereits zuvor. "Du hast dich nicht geirrt. Es war das richtige Gefängnis. Du warst nur ungefähr 36 Stunden zu spät. Denn das ist der Zeitpunkt, an dem Harry das letzte Mal von den Kameras aufgezeichnet wurde. Danach ist er einfach verschwunden. Und wenn ich verschwunden sage, dann meine ich nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Daten. Das Verhaftungsprotokoll wurde vernichtet, genau wie seine Luminalakte und auch seine Geburts- und Sterbeurkunde. Somit existierte laut den Papieren niemals ein Harry Styles."

Wie war das möglich? Harry war erst vor wenigen Tagen verurteilt und inhaftiert worden. Hatte Hunter ihn bereits wieder mit sich genommen? 

Mein Verstand schaffte es nur mit Mühe und Not einen lückenhaften Zusammenhang herzustellen. Doch Dom zerschlug all meine Theorie in der Luft, als er ein weiteres Detail ans Licht brachte. "Ich habe mich weiter umgesehen, denn etwas kam mir komisch vor. Harrys Name stand auf der Feindesliste der Regierung ganz oben. Jeder einzelne Regierungsbeamte wollte ihn finden und ihn zu Strecke bringen. Und sie haben das unmögliche tatsächlich möglich gemacht. Sie hatten ihn. Und jetzt ist er weg. Wie groß ist wohl der Aufruhr und das Chaos, das Harry hinterlassen hat?" Doms Augen leuchteten, wie die eines kleinen Kindes, welches über seinen Lieblingsactionheld sprach. „Die Antwort lautet: Es gibt gar kein Chaos. Harry wurde nicht einmal zur Fahndung ausgeschrieben. Niemand ist hinter ihm her. Keiner versucht ihn zu finden. Und wenn du nur ein bisschen so bist wie ich, dann fragst du doch jetzt Warum nur? Und auch darauf gebe ich dir eine Antwort."

Dom kramte ein zerknülltes Stück Papier aus seiner Hosentasche. „Es gibt jemand neues, der die Liste anführt."

Er reichte mir das zerknitterte Etwas.   

Es war ein Foto.

Schnell huschten meine Augen über die abgebildete Person. Ich legte meinen Kopf schief. "Ich kenne ihn", sagte ich, auf das Bild starrend.

Schachmatt || LarryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt