{55. Kapitel}

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„Ich hatte zuerst die Vermutung, dieser hypnagoge Zustand sei durch eine Gehirnerschütterung hervorgerufen worden, aber Ihr Mann hat keine Gehirnerschütterung davongetragen." Der Arzt schien mehr zu sich selbst zu sprechen, als zu mir. „Es ist mir ein Rätsel, wie es zu diesen großflächigen Schnittwunden kommen konnte." Er sah konzentriert zur Seite, als würde er sich den Anblick von Harrys Verletzungen noch mal in Erinnerung rufen. „Es ist als wollte er sich selbst foltern..." Der ältere Mann verstummte sofort, als er meinen verkrampften Gesichtsausdruck, herbeigeführt von seiner Wortwahl, sah. Er räusperte sich. „Ich würde Ihnen nahelegen, einen Therapeuten zu konsultieren."

Ich schluckte. Schock lähmte mein Nervenzentrum. „Wie...Wie soll ich ihm das nur verständlich machen?" Ich erwartete mir keine Antwort. Immerhin sprach ich nicht mit dem Arzt. Ich sprach zu mir selbst. „Kann ich zu ihm?" Ich fokussierte nun die Tür, die von ihm verdeckt wurde.

„Ja natürlich können Sie das. Wir haben ihm Schmerzmittel verabreicht, weshalb seine Wahrnehmung noch etwas verzerrt sein kann." Der Doktor öffnete die Tür und wir traten vor den Behandlungsraum. „Er ist bei vollem Bewusstsein, aber vermutlich noch schwach." Ich nickte die Kommentare des Mannes ab, als er am Ende seine Rede angekommen war, verschwand er.

Ich sah die Tür an, die zwischen mir und Harry lag. Langsam öffnete ich sie.

Von der Schwäche, die sich laut dem Arzt über Harry gelegt haben sollte, war nicht viel zu sehen. Der großgewachsene Lockenkopf stand vor dem Krankenbett und knöpfte sich eilig sein Hemd zu. Als er mich sah, kam er auf mich zu.  Er packte mich am Handgelenk und zog mich mit sich Richtung Tür.

„Harry, was ist..." Ich konnte meine Frage nicht mehr zu Ende formulieren, da schnitt er mir schon das Wort ab. „Wir müssen sofort hier weg!" Ich blieb stehen, aber Harry hatte keine Schwierigkeiten mich einfach hinter sich herzuziehen. Meine Beine fanden auf dem glatten Untergrund keinen Halt.

„Stopp!" Ich riss an meiner Hand. Harry drehte sich zu mir um. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er mich an. „Louis, ich muss hier weg", sprach er diesmal etwas ruhiger. Seine Pupillen huschten über mein Gesicht. „Das war Hunter."

Ich schüttelte meinen Kopf, unfähig etwas zu sagen. Meine Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Der Lockenkopf sah auf meine Hände, die sich vorsichtig auf seine Brust legten. Zaghaft schob ich ihn zurück aufs Krankenbett. Er leistete keinen Widerstand. „Harry..." Ich atmete schwer ein. „Ich habe mit Noam telefoniert. Ich hatte denselben Verdacht, aber Haydon Hunter war die gesamte Zeit über in seiner Isolationszelle."

Harrys Kiefer war angespannt. Der Blick gequält. „Louis, ich war d..."

Ich ließ ihn nicht aussprechen. Seine Gedanken waren schon zu weit verloren gegangen. Ich musste weiteren Schaden verhindern. „Haydon hat das geschafft, was keiner sich auch nur zu denken wagte. Er hat dich im Luminal angegriffen. Und das nicht nur physisch, sondern auch emotional. Er ist in deinem Kopf, Harry." Mit meinen Worten erstarrte Harrys Miene zu einer ausdruckslosen Maske. Er drehte seinen Kopf zum Fenster und blickte hinaus. Seine Augen bewegten sich so schnell, was würde er etwas lesen, das jedoch eigentlich gar nicht da war.

Mit meiner Hand an seiner Wange, erkämpfte ich mir seine Aufmerksamkeit zurück. „Harry sag mir... wie geht es dir?"

„Es geht mir gut."

„Schön, das freut mich zu hören. Aber mir geht es nicht gut." Sofort glitten seine grünen Augen meinen Körper entlang, auf der Suche nach möglichen Verletzungen. Hörbar atmete ich ein. Schlagartig schnellte sein Blick wieder zu mir nach oben. „Der Fall mit den Schachfiguren, die Trennung von Juliet, dein Scheintod und jetzt das..." Ich zeigte auf seinen, in Verband gehüllten, Körper. „Das alles wird mir langsam zu viel. Ich kann nicht mehr. Ich glaube... ich sollte mich in Therapie begeben." Ich sah ihn an. Seine Miene war unverändert. „Und ich würde mich freuen, wenn ich dabei nicht alleine wäre. Wenn du mich begleiten würdest." Die Lautstärke in der ich sprach, minimierte sich auf ein Flüstern.

Schachmatt || LarryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt