Kapitel 76; Manuel

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Ich bin müde, dabei habe ich gerade erst meine Augen geöffnet. Die Nacht war nicht wirklich erholsam. Palle neben mir schläft noch friedlich und ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht. Was würde ich nur ohne ihn machen? Trotz seiner Nebenwirkungen schafft er es mich zu beruhigen und ich kann mich auf ihn verlassen. Ich schlaf lieber noch etwas, schließlich muss ich heute Abend fit sein, außerdem ist es momentan viel zu gemütlich, als das ich aufstehen würde. Ich kuschel mich noch etwas mehr an Palle und schließlich meine Augen wieder.

„Hey“, dringt eine Stimme leise an mein Ohr, sodass ich meine Augen öffne. Palle ist leicht über mich gebeugt, er ist mir so verdammt nah gerade. Irgendwie macht mich das nervös. „Wir müssen aufstehen“, und damit richtet er sich auf und verschwindet im Bad. Ein Blick auf mein Handy verrät mir, dass es 11:30 ist. Er hat recht, wir müssen wirklich aufstehen. Heute findet das Ritual statt. Ob Micha uns noch einmal schreibt? Also der echte, nicht Zorn, die mit seinem Handy schreibt. Hoffentlich geht es ihm gut. Ich verlasse das gemütlich warme Bett und gehe zu meinem Koffer, um mir die Sachen rauszusuchen, die ich gleich tragen werde. Palle ist noch im Bad als ich damit fertig bin, also bestelle ich den Zimmerservice, schließlich haben wir noch nichts gegessen.

Als es an der Tür klopft und ich sie öffnen gehe, öffnet sich zeitgleich die Tür zum Badezimmer und Palle betritt das Zimmer.

„Wieder der Zimmerservice?“, die Angestellte des Hotels grinst. „Sie verstecken sich definitiv und ich werde noch herausfinden vor wem!“, herausfordern blickt sie zu mir und ich unterdrücke ein Seufzen. „Den Grund habe ich jedenfalls schon.“

„Ach wirklich?“, ich ziehe eine Augenbraue hoch und versuche gelassen zu wirken, während meiner Inneres am durchdrehen ist. Weiß sie es wirklich? Gehört sie zu Zorn? Vermutlich, ansonsten würde sie nicht-

„Sie sind mit Ihrem Lover durchgebrannt!“ Bitte, was? Mein Lover? Oh Gott, meint sie damit etwa Palle? „Der Gesichtsausdruck sagt schon alles. Ich habe recht“, triumphierend sieht sie mich an und ich starre sie perplex an, dann lache ich. Ich kann gar nicht mehr aufhören.

„Was ist so witz-“, fragt Palle und sobald er die Angestellte des Hotels sieht verstummt er.

„Ach nichts“, sage ich schmunzelnd und lasse die Angestellte eintreten. Sie scheint jetzt etwas eingeschnappt zu sein, denn sie erklärt uns kurz welches Essen steht und verschwindet dann wortlos. Kopfschüttelnd sehe ich zur mittlerweile geschlossen Tür, durch die sie verschwunden ist und wende mich dann wieder dem Wesentlichen zu. „Ich geh ins Bad.“

Ich betrete das Zimmer wieder und ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es jetzt kurz vor 13 Uhr ist. Noch zehn Stunden bis zum Ritual also. Ein Knoten bildet sich in meiner Magengegend und mir wird schlecht. In zehn Studen sind wir vielleicht tot. In zehn Stunden könnte Zorn ihre Waffe auf uns richten. Meine Atmung beschleunigt sich und mir wird ganz warm und- Arme legen sich um mich.

„Bald hast du deine Brille wieder und dann verschwinden die Panikattacken“, murmelt Palle und ich klammer mich an ihn während die ersten Tränen meine Sicht verschwimmen lassen. Hoffentlich bekommen wir unsere Gegenstände wieder und gehen bei dem Versuch sie zurückzuholen nicht drauf. „Wir dürfen jetzt nicht weiter über heute Abend nachdenken, okay? Wir müssen uns davon ablenken.“

Und das haben wir auch gemacht. Wir haben angespannt gegessen, angespannt unsere Vorlesungen nachgeholt und angespannt Filme auf Palles Laptop gesehen. Die Credits laufen gerade über den Bildschirm und obwohl Palles Arm um mich liegt, finde ich keine Ruhe. Es ist dieses innere Stressgefühl, das man hat, wenn man etwas aufschiebt. Man hat diese eine Sache einfach immer im Kopf und das ist auch jetzt der Fall. Auch als Palle den Laptop schließt und mich in eine Umarmung zieht, ist neben dem angenehmen Gefühl seiner Nähe, noch dieses Stressgefühl. Dieses Gefühl, dass dir sagt, dass du es vielleicht aufschieben, aber es niemals vergessen kannst. Es macht mich verrückt. Wie hält Palle das bitte aus? Er ist gerade so ruhig, so unbekümmert. Liegt das an seinen Nebenwirkungen oder liegt es daran, dass er oft Hausaufgaben aufgeschoben und auf dem letzten Drücker gemacht hat? Ich weiß es nicht und ich habe keine Ahnung wie ich das erfragen soll also lasse ich es. Ich betrachte die Uhr, die an der Wand hängt und wie die Sekunden stetig voran schreiten, das Unausweichliche immer näher rücken lassen. In 13 Minuten müssen wir vor Zimmer 703 stehen. 13 scheiß Minuten, die mir einerseits zu lang und andererseits viel zu kurz sind. Ich will das, aber gleichzeitig will ich es nicht. Ich habe Angst, verdammt. Angst, vor dem was uns in Zimmer 703 erwartet.

„Wir sollten uns auf den Weg machen, oder?“, fragt Palle mich plötzlich. Ich drehe meinen Kopf zu ihm und sehe wie seine braunen Augen auch das Voranschreiten der Zeit beobachten. Der Digitalen Uhr an der Wand fehlt zwar das dramatisierende Tik Tak einer analogen Uhr, aber jeder Atmenzug, den ich nehme, kommt diesem Geräusch nahe. Unaufhörlich, unweigerlich. Ich atme, kontinuierlich, unaufhörlich. Ich muss atmen. Genauso wie die Zeit unaufhörlich voranschreitet, mittlerweile glaube ich schon ein Ticken in meinem Ohr zu hören. Wie lange ich wohl noch atmen kann?

„Ja, wir sollten gehen“, sage ich, bleibe aber bewegungslos liegen. Alles was ich tue ist atmen und blinzeln. Unbewusst und doch so essenziell. Ich konzentriere mich auf meine Atmung, spüre wie meine Lugenflügel sich ausweiten, bevor sie wieder ihr Volumen verlieren. Immer wieder. Im Rhythmus, wie das Ticken einer Uhr. Kontinuierlich. Unaufhörlich. Aber im Gegensatz zu der Zeit nicht unendlich. Irgendwann nehme ich meinen letzten Atemzug, vielleicht früher als mir lieb ist. Mein Blick fällt auf die Uhr. 22:54. Wir müssen aufstehen und Palle tut das auch gerade. Mir wird kalt. Seine Nähe fehlt mir sofort. Was wenn das das letzte Mal war? Was wenn er mich nie wieder umarmen kann, weil er- weil er-

„Jetzt komm, wir müssen“, Palle sieht auffordernd zu mir. Ich weiß. Ich weiß, dass ich aufstehen muss. Ich weiß, dass wir zu Zimmer 703 müssen, aber was wenn nicht? Was wenn wir einfach hierbleiben. Hier in Sicherheit.

„Was wenn wir nicht müssen?“

„Manu, wir-“, Palle stockt, als er die Tränen sieht, die sich in meinen Augen gesammelt haben.

„Was wenn irgendwas schief geht? Was wenn dir was passiert? Was mach ich dann bitte?“, ich kann nicht verhindern, dass meine Stimme bricht und genauso wenig kann ich verhindern, dass ich aufschluchze. „Ich will das nicht. Ich will mir das nicht mal vorstellen müssen und jetzt- jetzt könnte das Unaussprechliche plötzlich Realität werden und ich-“, ich breche ab, als sich Arme um mich legen.

„Ich habe auch Angst, aber wenn wir das jetzt nicht durchziehen, kann so viel Shit passieren, Manu. Was wird aus Michael und Maurice? Und was ist mit uns? Verlieren wir uns nicht immer mehr in den Nebenwirkungen? Sind wir irgendwann überhaupt noch wir? Ich will wieder ich sein, verdammt und du willst das doch auch, oder?“ er löst sich von mir, sieht mir ins Gesicht und lächelt. Er lächelt. Wie schafft er das nur? Wie kann er jetzt lächeln? Palle sieht mir in die Augen, sein Lächeln wird eine Spur sanfter und er sieht so aus, als wolle er noch irgendetwas sagen, aber er bleibt still.

„Okay“, sage ich und durchbreche damit die Stille. Wenn Palle noch so unglaublich lächeln kann, schaffen wir das schon irgendwie. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass wir nur noch drei Minuten haben. Shit. „Wir müssen uns beeilen!“ Ich schnappe mir Palles Hand und laufe los in Richtung Zimmer 703. Als wir immer näher kommen, lasse ich seine Hand los, während ich zeitgleich meine Schritte verlangsame. Ich habe keine Lust darauf, dass man uns instant hört. Leise bewegen wir uns durch den leeren Flur und als wir vor dem richtigen Zimmer stehen, halten wir an und ich schaue auf die Uhr. 30 Sekunden und sie laufen viel zu schnell ab. Es kommt mir vor als wäre es der Timer einer Bombe. In 30 Sekunden fliegt alles was wir kennen in die Luft. Alles ändert sich. 20 Sekunden. Ob Micha es hinbekommen wird, die Tür unauffällig zu öffnen? Was wenn er es nicht kann, was wenn er schon längst aufgeflogen ist? 10 Sekunden. Der Countdown. Die letzten Sekunden. Vielleicht die letzten Sekunden meines Lebens? Letztendlich ist es auch egal, Zeit zum weglaufen hab ich eh nicht mehr, außerdem hat Palle recht: Wir können nicht weglaufen, sonst verlieren wir uns selbst und alles was uns wichtig ist. 23 Uhr. Der Knall einer Bombe bleibt aus. Es passiert gar nichts. Die Tür bleibt verschlossen. Perplex sehe ich auf mein Handy und mir werden die Sekunden angezeigt die unaufhörlich die Minute vollenden. Die Tür bliebt geschlossen. Fuck. Micha muss was passiert sein. Vielleicht ist er schon- Tränen füllen meine Augen, dann werde ich angestupst. Mein Blick fällt auf Palle, der mich ansieht und irgendwie beruhigt mich das, irgendwie bewirkt es aber auch das komplette Gegenteil. Er wirkt gelassen. Warum wirkt er so gelassen, verdammt?! Ich will was sagen, will ihn anschreien, will irgendetwas machen, aber Palle legt seinen Zeigefinger auf seine Lippen und verdeutlicht mir so leise zu sein. Stumm nicke ich betrachte die Tür, aber nichts passiert. Verdammt, Micha bitte mach die Tür auf, bitte sei am Leben.

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