„Also so lange war ich jetzt auch nicht weg, du kannst mich wieder loslassen“, spaße ich nachdem die Umarmung schon recht lange dauert und ich versuche mich von ihr zu lösen, den diese Haltung tut mit dem Gepäck, was ich immer noch mit mir rumschleppe etwas weh. Ich halte inne als meine Mutter plötzlich schluchzt. „Mama? Was ist los?“, will ich wissen und habe sofort Angst vor der Antwort auf diese Frage. Was ist passiert? Wieso weint sie? Sie löst sich von mir und ich blicke in ihr verweintes Gesicht. Ihre Tränensäcke sind irgendwie bläulich und sehen alles andere als gesund aus und über ihren Augen befindet sich ein Tränenfilm. Ich weiß nicht was ich tun soll. Ich hasse es meine Mutter weinen zu sehen und das hier ist ein heftiges weinen. Viel zu heftig. Was ist passiert? „Was ist los?“, frage ich und spüre wie auch meine Augen nass werden. Wieder erhalte ich als Antwort nur ein Schluchzen und es zerreißt mich. „Mama?“ Sie fängt an ihre Lippen zu öffnen, möchte Silben formen, aber irgendwie gelingt es ihr nicht.
„Sie hat gerade einen Anruf aus dem Krankenhaus erhalten“, erklingt eine Stimme aus dem Flur und mein Blick gleitet zu Peter. Er ist der komplette Gegensatz zu meiner Mutter. Seine Stimme ist kühl, er weint nicht, er ist ganz ruhig und irgendwie macht mir das noch mehr Angst. Abwartend sehe ich zu ihm, weil ich mich nicht traue zu fragen was passiert ist, weil die Erwähnung eines Krankenhauses im Bezug auf den Ausbruch meiner Mutter nicht Gutes verheißen kann. Mein Kopf spielt plötzlich so viele Szenarien ab und ich zwinge mich dazu meinen Kopf zu leeren. Es geht bestimmt allen gut. Ich muss mir keine Sorgen machen. Die Lügen bauen mich etwas auf, obwohl ich weiß, dass es erbärmlich ist und sie letztlich das, was Peter mir mitteilen wird, nur schlimmer machen werden, aber trotzdem halte ich an den Lügen fest. „Unsere Großeltern sind gestorben. Autounfall“, sagt Peter nach einer Weil und jetzt ist mein Kopf wirklich leer. Sie sind tot? Ich erinnere mich an das letzte Gespräch mit ihnen und sie können nicht tot sein. Es geht einfach nicht. Das ist zu surreal.
„Verarsch mich nicht“, bringe ich hervor, lasse mein Gepäck los, um meine Arme zu verschränken und Peter seufzt.
„Tu ich nicht. Sie sind tot“, teilt er mir erneut mit und zwar so sachlich als würde er über's Wetter reden. Tot. Unfassbar. Unbegreiflich. Meine Arme lösen sich aus ihrer verschränkten Haltung und hängen an mir herab. Ich finde mein Leben hatte in letzter Zeit schon viel zu viel mit Tod zu tun, also was soll das jetzt, bitte? Ist das ein gottverdammter Scherz des Universums? „Mama hat schon alle angerufen. Sie kommen bestimmt auch bald an.“
„Oh“, sage ich einfach weil ich nicht weiß wie zur Hölle ich darauf reagieren soll. Keine Tränen rollen über meine Wangen und mein Kopf ist leer, irgendwie taub. Aber als Trauer würde ich es nicht bezeichnen, eher Unglauben. Vielleicht habe ich einfach nicht realisiert, dass sie wirklich weg sind, dass ich sie nie wieder sehe, sonst müsste ich doch weinen, oder? Sollte ich nicht so aufgelöst sein wie meine Mutter? Ich müsste doch auch weinen, verdammt. Müsste es sich nicht so anfühlen, als ob der Boden unter mir weggezogen werden würde? Nein. Sie waren nie ein Halt für mich, sie waren das Gegenteil davon, aber trotzdem müsste ich reagieren, oder? „Ich geh auf mein Zimmer“, sage ich und meine Stimme fühl sich seltsam an, scheint nicht meine Stimme zu sein, aber sie ist es definitiv. Monotoner als sonst, vielleicht auch kalt, vielleicht klinge ich jetzt so wie Peter. Ich weiß es nicht.
Wie ferngesteuert bewege ich mich in Richtung meines Zimmers und atme laut aus, als ich die Tür hinter mir geschlossen habe. Ich verweile kurz an der Tür, lege meinen Kopf in den Nacken, bis er das Holz der Tür berührt und starre an die Zimmerdecke. Ich werde sie nie wieder sehen. Nie wieder. Ich warte auf ein Trauergefühl, aber nichts passiert. Meine Augen sind wieder trocken und sie bleiben trocken. Ich schließe meine Augen, verharre an Ort und Stelle, warte bis Trauer mich überkommt, aber nichts passiert. Seufzend stoße ich mich von der Tür ab und setzte mich auf meim Bett. Mir fällt auf, dass ich das Gepäck unten vergessen habe und im selben Moment frage ich mich warum zur Hölle ich über so etwas belangloses nachdenke, nur um im nächsten Moment überfordert zu lachen. Das ist so bizarr. Ich lass mich zurück auf mein Bett fallen, starre die Zimmerdecke an, versuche mich an schöne Momente mit meinen Großeltern zu erinnern und eine verblasste Erinnerung spielt sich in meinem Kopf ab. Ich glaube, ich war cica acht Jahre alt, als ich eine Vase kaputt gemacht habe und mein Großvater hat mich in Schutz genommen. Ist das wirklich passiert? Oder verwechsel ich ihn mit meinem anderen Opa, der schon viel zu lange tot ist? Scheiße. Ich weiß es nicht und ich kann niemanden fragen. Trauer überkommt mich, aber ich weiß, dass es nicht an der Person liegt, die vor kurzem gestorben sein soll, sondern an der Person, die schon viel zu lange tot ist. Ansonsten nichts. Keine Trauer für meine beiden Großeltern. Gar nichts. Was stimmt nicht mit mir? Hasse ich sie so sehr, dass ich nicht mal traurig darüber sein kann, dass sie tot sind? Ich erinnere mich an den Witz den ich mit Palle vor ein paar Wochen darüber gemacht habe, als wir auf seinem Zimmer waren. „Hast du ihnen dann gesagt, dass du neben mir schläfst? Das hätte ihnen bestimmt einen Herzinfarkt beschert“, Palle. „Shit, das hätte ich echt sagen sollen“, ich. Kein schlechtes Gewissen, eher im Gegenteil, meine Mundwinkel ziehen sich leicht nach oben. Shit. Was stimmt nicht mit mir? Bin ich so gefühlskalt, so unmenschlich, dass ich den Tod zweier Familienmitglieder einfach so wegstecke? Ist es krank, dass ich irgendwie erleichtert bin? Sie können mich nicht mehr verletzen, sie können mich nicht mehr über "Sünden" belehren. Sie wissen nichts davon, dass ich mit Palle zusammen bin und ich muss ihre Reaktion nicht ertragen. Erleichterung. Fuck. Ich bin ein schlechter Mensch, oder?
Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche, betrachte ungläubig die Uhrzeit. 23:58 wird mir angezeigt. Liege ich wirklich schon so lange hier? Unwirklich, aber jetzt wo ich so darüber nachdenke ist mein Zeitgefühl flöten gegangen, als meine Mutter angefangen hat zu weinen. Apropos. War es in Ordnung von mir die beiden unten alleine zu lassen? Ich weiß es nicht, aber ich habe diesen Moment gebraucht und jetzt muss ich mich jemanden mitteilen, allerdings nicht den beiden Personen, die hier im Haus sind. Ich entsperre mein Handy und wähle Palles Chat aus.
Ich starre auf das Eingabefelde, meine Finger schweben über der Tastatur und ich halte inne. Was soll ich schreiben? Ich will jetzt noch nicht sagen was Sache ist. Während ich so überlege, was ich schreiben soll, verdunkelt sich der Bildschirm und bevor er sich komplett ausschaltet, fange ich an das erst beste zu tippen, was mir eingefallen. Ist man ein schlechter Mensch, wenn man erfahren hat, dass jemand gestorben ist und man eigentlich traurig sein sollte, es aber nicht ist? Habe gerade 'nen Film mit Peter gesehen und irgendwie ist die Frage hängen geblieben. Ich starre auf die von mir gesendete Nachricht und dann auf die Leiste oben. Zuletzt online 23:46, vielleicht schläft er schon. Ich starre auf den Chat und genau in dem der Bildschirm sich verdunkelt und ich ihn ausgehen lasse, werde ich plötzlich angerufen. Palle. Irritiert nehme ich den Anruf an.
„Ja?“, frage ich leise, schließlich ist es mitten in der Nacht.
„Was ist los?“
„Nichts.“
„Klar, deswegen auch die Nachricht mitten in der Nacht.“
„Ich habe doch gesagt, dass es um einen Film geht-“
„Mhm, wie heißt der Film?“ Shit.
„Das ist doch völlig belanglos“, sage ich nach einer kurzen Gesprächspause und kneife meine Augen zusammen. Mist ey, er hat mich viel zu einfach durchschaut. War es so offensichtlich?
„Manuel“, Palle klingt ungewohnt streng und ich seufze.
„Ist ja gut, ist ja gut. Meine Großeltern sind anscheinend gestorben. Wohl durch einen Autounfall, genaueres weiß ich nicht.“ Es ist still, alles was ich höre ist die leise Atmung von Palle. Wahrscheinlich überlegt er was er sagen soll.
„Soll ich vorbeikommen?“, fragt er zögernd und ich seufze lautlos.
„Schon okay. Es geht mir gut und genau das ist ja mein Problem“, bringe ich das Gespräch auf die ursprüngliche Frage zurück und werde wieder von Schweigen begrüßt.
„Ich will diese Unterhaltung nicht übers Handy führen“, lässt Palle mich wissen. „Ich komme vorbei.“
„Was nein, bitte nicht-“, ich höre dumpf das unverkennbare Geräusch von Palles Haustür.
„Tja, zu spät.“
„Nein, du kannst echt nicht vorbei kommen! Das ist doch voll weird, schließlich ist meine Mum gerade ziemlich aufgelöst und dann weiß sie, dass ich mit dir darüber geredet habe, außerdem will ich nicht, dass irgendjemanden dieses Gespräch hört.“ Zische ich leise. Palle schweigt, nur ein Rauschen ist zu hören, anscheinend ist es draußen windig.
„Dann komm mir entgegen.“
„Spinnst du? Es ist mitten in der Nacht, das würde meine Mutter bestimmt auch nicht-“
„Schleich dich raus.“
„Nein? Wenn meine Mum nach mir sieht und ich nicht da bin, erschreckt sie sich bestimmt!“
„Sag Peter Bescheid oder kleb 'nen Zettel an deine Tür“, schlägt Palle vor und mir wird bewusst, dass er nicht locker lassen wird.
„Okay“, seufze ich, stelle Palle auf Lautsprecher und suche einen Stift, um eine Botschaft auf ein Post-it zu schreiben. Palle schweigt währendessen, alles was ich höre ist das leise Rauschen das vom Wind verursacht wird und hin und wieder das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos. Bin nur kurz frische Luft schnappen. Handy hab ich bei mir und Schlüssel auch, bin bald wieder da. schreibe ich und klebe den Zettel außen an meine Zimmertür. Ich stelle Palle wieder leise und schleiche mich erfolgreich aus dem Haus. Ein schlechtes Gewissen überkommt mich, aber ich unterdrücke es, denn das hilft mir momentan nicht weiter.
„Wo treffen wir uns?“, frage ich leise und leicht zitternd. Es ist wirklich kalt, aber kein Wunder bei der Jahreszeit. Ich verkrieche mich so gut, wie es mir gelingt in meiner Jacke und warte auf Palles Antwort, während ich mich weiter von meinem Haus entferne.
„Der Spielplatz am Brunnen?“
„Okay.“
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Hast du eigentlich auch genug von mir?
FanficEin neuer Lebensabschnitt beginnt, wenn man das Abitur hinter sich hat und jetzt nach einer geeigneten Universität sucht. Am liebsten möchte man ja ganz weit weg von zu Hause und endlich eine eigene Wohnung und Freiheit haben. Aber so einfach ist da...