„Warum hast du nichts gesagt?“ Stiche. Die Enttäuschung meiner Eltern bohrt sich wie unzählige Nadeln in meine Haut, hinterlassen einen unerklärlichen Schmerz. Die Tasse an meinen Lippen wiegt auf einen Schlag 20 Kilo mehr, rutscht mir beinah aus der Hand. Ihr flüssiger Inhalt in meinem Rachen scheint fast schon fest zu werden, als hätte ich Flüssigbeton geschluckt, der sich jetzt verhärtet und mir das Atmen erschwert. Sacht stelle ich die Tasse ab, um sie nicht doch noch fallen zu lassen. Vor meinem inneren Auge sehe ich sie schon auf dem Tisch zersplittern, genauso wie das Vertrauen meiner Eltern in mich. Unbeschadet setze ich die Tasse ab und schlucke schwer. Ich spüre den Betonklotz meine Kehle runtergleiten, konzentriere mich auf mein angestrengtes Atmen. Die Blicke meiner Eltern durchbohren mich regelrecht, scheinen jede einzelne meiner Lügen und Ausreden aufzudecken. Und obwohl ich weiß, dass sie sich nur auf Maurice' beziehen, nimmt das die Schuld nicht von mir, eher im Gegenteil, es verstärkt sie. Denn ich weiß, dass ich ihnen niemals von diesen für mich so wichtigen letzten Monaten erzählen kann.
„Wir waren noch nicht zusammen, als wir hier angekommen sind“, ich hebe meinen Blick, schaue meine Mutter an, dann meinen Vater. Es fällt mir schwer, so durchschaubar wie ich mich gerade fühle. Aber hier geht es nicht um unsere Gegenstände oder sonstiges, sondern nur um die Beziehung zwischen Maurice und mir und über die kann ich sprechen. Vor allem, da ich ihnen was das angeht nichts verschwiegen habe.
„Oh. Seit wann seid ihr denn zusammen?“, mein Vater mustert mich interessiert und meine Mutter stützt ihre Arme auf dem Tisch ab.
„Gestern.“ Und obwohl mir gerade eigentlich nicht danach ist, schleicht sich ein Lächeln auf meine Lippen. Der dunkle Schleier um meine Augen legt sich langsam, und auch der Druck lässt nach. Meine Mutter schaut mich mit demselben Grinsen wie gestern an und mein Vater nickt unmerklich. Das ist alles, was sie wissen wollen. Keine Fragen zu irgendwelchen Dingen, die ich ihnen nicht beantworten darf und kann. „Ich muss jetzt aber auch los.“
„Oh, klar. Natürlich. Richte Maurice liebe Grüße aus, ja?“ Ich erwidere das leichte Lächeln meiner Mutter, nicke und stehe dann vom Tisch auf, um mich fertig machen zu gehen.
Kurz darauf verlasse ich das Haus und sofort schlägt mir ein kalter Wind entgegen. Ich laufe die vom Schnee befreite Einfahrt entlang und trete auf die Straße. Zu meinem Glück sind unsere Nachbarn zumindest so umsichtig, dass sie den gesetzlich festgelegten Bereich vor ihren Häusern freigeschippt und mit Streusalz versehen haben. Und trotzdem fliege ich auf dem Weg zu Maurice einmal fast auf die Fresse, weil ich eine ziemlich glatte Stelle übersehe. Zum Glück kann ich gerade so mein Gleichgewicht halten und unbeschadet weiter gehen.
Wenig später komme ich ohne weitere Zwischenfälle bei Maurice' an. Es dauert nicht lange und er öffnet mir die Tür. Als ich sein Haus betrete, wird mir bewusst, wie kalt es draußen eigentlich ist. Und als er mich dann noch kurz umarmt, wird der Kontrast zwischen Kälte und Wärme noch deutlicher. Maurice führt mich ins Wohnzimmer, um seiner Mutter zu sagen, dass ich da bin.
„Hallo, Micha“, seine Mutter sitzt auf der Couch, vertieft in Papierkram. Trotzdem hebt sie kurz ihren Kopf und schenkt mir ein freundliches Lächeln, während sie mich begrüßt.
„Wir gehen in mein Zimmer“, teilt Maurice ihr mit, bevor er mich an der Hand aus dem Raum zieht. Nur am Rascheln der Blätter kann ich erahnen, dass sie sich wieder ihren Unterlagen widmet. Maurice zieht mich durch den Flur, vorbei an der Wand mit Familienfotos. Ich bleibe stehen und Maurice, der immer noch meine Hand hält, macht gezwungenermaßen zwei Schritte rückwärts. „Was-oh.“ Er stellt sich neben mich, betrachtet das eine Bild seiner Schwester zwischen den ganzen anderen Bildern. „Ich habs aufgehangen.“ Unauffällig schiele ich zu ihm rüber. Ein leichtes Lächeln liegt auf seinen Lippen, während er immer noch auf das Bild schaut. „Ich fühl mich immer noch ziemlich scheiße, weil meine Eltern wegen mir ihre Trauer unterdrückt haben. Aber wir haben darüber geredet, irgendwie. Wurde nach den ganzen Jahren auch mal langsam Zeit dafür, oder nicht?“ Er wartet meine Antwort gar nicht erst ab, sondern redet sofort weiter: „Wir haben uns darauf geeinigt, dass Mila zwar tot, aber immer noch ein Teil der Familie ist. Ich meine, wir haben alle Fehler gemacht. Meine Eltern, in dem sie sich teilweise so verhalten haben, als hätte Mila nie existiert, und ich, indem ich mein Leben quasi direkt mitweggeworfen habe. Aber ich glaube, in der Zukunft werden wirs definitiv besser machen.“ Ich schaue zurück aufs Bild, schaue direkt in Milas aufgeweckte, himmelblaue Augen und komme nicht darum herum mich zu fragen, ob sie jetzt genauso stolz auf Maurice wäre, wie ich es bin. Ja. Ja, das wäre sie, denke ich. Sie würde vor ihrem Bruder stehen, ihn umarmen und ihm sagen, dass er die richtige Entscheidung getroffen hat. Ich glaube, so würde sie es machen. Und dann würde sie glücklich lachen und Maurice wäre auch happy.
DU LIEST GERADE
Hast du eigentlich auch genug von mir?
FanfictionEin neuer Lebensabschnitt beginnt, wenn man das Abitur hinter sich hat und jetzt nach einer geeigneten Universität sucht. Am liebsten möchte man ja ganz weit weg von zu Hause und endlich eine eigene Wohnung und Freiheit haben. Aber so einfach ist da...