Kapitel 49: Michael

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Die Doku über die Ausmaße der sozialen Medizin flimmert über den Bildschirm. Das schwache Licht des Fernsehers ist die einzige Lichtquelle und lässt es durch die zugezogenen Vorhänge so wirken, als wäre die Dämmerung bereits eingebrochen.

Maurice liegt eingewickelt in Decken auf der Couch, sein Kopf ruht auf meinen Beinen, seine Augen sind geschlossen. Abwesend streiche ich ihm mit einer Hand durch die Haare. Er ist beinah sofort eingeschlafen, dabei war er derjenige, der die Doku unbedingt schauen wollte. Kann man ihm aber nicht wirklich übelnehmen, bei der gerade herrschenden Atmosphäre. Da werde selbst ich müde.

Die Doku hat eine Länge von knapp anderthalb Stunden und circa die Hälfte ist schon rum. Wenn sie vorbei ist, sollte ich Maurice wohl besser aufwecken, damit er rechtzeitig zur Uni kommt. Oder soll ich ihn lieber schlafen lassen? Nein. Am Ende bekommt er wirklich noch Stress mit Olivia, weil er sie permanent um ihre Mitschriften erleichtert.

Olivia. Muss ich mir wegen ihr wirklich Sorgen machen, so wie Manuel meinte? Laut Maurice sind sie nicht mal richtig befreundet, aber wie sieht Olivia das? Mika konnte mir mit ihrer Suche auch nicht wirklich weiterhelfen. Und selbst wenn, was hätte es mir gebracht? Gar nichts.

Und selbst wenn Olivia nichts von Maurice will, irgendwann wird sicher jemand kommen. Ich kann ihn nicht einfach nur für mich behalten. Das wäre nicht fair ihm gegenüber. Sein Glück sollte über allem stehen.

Warum bin ich jetzt so? Sonst nehme ich mir doch auch alles, was ich will. Warum- Nein. Das bin nicht ich. Das Portemonnaie hat mich gefragt, was ich will, und ich habe mit Maurice geantwortet. Das war der Fehler. Jetzt verlangt es wirklich nach ihm. Scheint so, als müsse ich mit diesem nagenden Gefühl eine Weile lang klar kommen, als ob das ganze mich nicht schon genug mitnehmen würde. Ich habe mich doch mal gefragt, ob meine Gier sich auch auf Menschen beziehen kann. Mittlerweile habe ich meine Antwort gefunden.

Und wenn ich einfach mit ihm rede? Es wäre ein viel zu hohes Risiko. Ich darf Maurice nicht verlieren, unter keinen Umständen. Aber würde ich es überhaupt aushalten, zu sehen, wie Maurice eine Beziehung mit jemand anderem führt? Ich muss es aushalten können. Sein Wohl steht an oberster Stelle. Das ist es, was mir wichtig sein sollte. Ich muss meine eigenen Bedürfnisse zurückschrauben. So schwer kann das ja nicht sein. Wenn andere das schaffen, werde ich das ja wohl auch hin bekommen.

Scheiße. Manuel hat recht. Ich werde Maurice verlieren. So oder so. Natürlich werde ich ihn verlieren. Wenn ich's ihm sage, steht die Wahrscheinlichkeit, dass es komisch zwischen uns wird, extrem hoch. Wenn ich's ihm nicht sage, muss ich damit klarkommen, dass er jemand anderen findet.

Ich weiß nicht, was ich machen soll. Verdammt, warum ist das alles so kompliziert? Warum muss alles ausgerechnet gleichzeitig passieren? Kann nicht einfach ein Problem nacheinander kommen? Nein, natürlich muss alles im selben Moment auf mich niederprasseln. Als wäre es nicht so schon schlimm genug. Ich kann das nicht. Ich halte das nicht aus. Nicht jetzt, nicht so! Ruhig bleiben. Atmen.

Ich schließe meine Augen. Konzentriere mich auf's hier und jetzt. Alles ist gut. Maurice liegt ganz entspannt neben mir, ich muss mir keine Sorgen machen. Alles ist gut. Alles ist gut.

Und dann endet die Doku. Ich muss mich zusammen reißen. Atmen. Beruhigen. Maurice wecken.

„Was ist denn?“ Schläfrig reibt er sich die Augen und richtet sich samt Deckenberg auf. Er gähnt. So wie er aussieht, würde er am liebsten direkt weiterschlafen.

„Du musst zur Uni.“ Ehrlich lächle ich ihn an. Allein seine Stimme zu hören hat schon dafür gesorgt, dass ich mich etwas besser fühle. Maurice geht's gut. Die Irre mit der Waffe kennt uns nicht. Das Studium läuft. Warum sorge ich mich überhaupt? Alles andere ist doch scheißegal. Genau. Es ist egal. Alles ist egal. Warum denke ich jetzt darüber nach?

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